Wenn sich Zucker wie Eiweiße verhalten

Die Welt der Zuckerchemiker ist ins Wanken geraten: Bisher galt, dass sich die großen natürlichen Polysaccharid-Aggregate der Zellulose mit Hilfe physikalischer Einflüsse zwar in kleine Bestandteile bis hin zum Molekül zerlegen lassen. Doch dieser Prozess, so die bisherige Lehrmeinung, ist irreversibel.

„Einmal aufgelöst, bilden sich aus den so entstehenden Makromolekülen keine identischen Aggregate mehr“, war auch Prof. Dr. Thomas Heinze von der Friedrich-Schiller-Universität Jena überzeugt.

Doch, so fügt der Professor für Organische und Makromolekulare Chemie hinzu, diese traditionelle Sicht müsse jetzt überdacht werden. Wie das Forscherteam um den Jenaer Chemiker und Fachkollegen der University of Nottingham in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Nature Scientific Reports“ schreibt, gibt es eindeutige Hinweise darauf, dass sich aus den Polysaccharid-Molekülen in wässriger Lösung sehr wohl selbstständig größere Aggregate zusammenfinden, welche sich vollständig reversibel wieder lösen (DOI: 10.1038/srep03861).

Dieses Prinzip der Selbstaggregation war bislang nur von Eiweißen bekannt. „Die gesamte Biochemie beruht darauf, dass sich Struktureiweiße oder Enzyme aus kleinen Untereinheiten zu großen funktionalen Komplexen organisieren, die sich je nach chemischer Umgebung wieder lösen oder neu bilden“, erläutert Chemiker Heinze. „Dass auch Zuckermoleküle ein solches eiweiß-artiges Verhalten zeigen können, ist aber eine völlig neue Erkenntnis“, ergänzt Melanie Nikolajski, die in Heinzes Gruppe zu diesem Thema ihre Doktorarbeit geschrieben hat.

In der vorliegenden Arbeit zeigen die Chemiker, dass sich kleine Moleküle sogenannter Aminozellulose zu größeren Molekülaggregaten aus bis acht Untereinheiten formieren, die anschließend größere supramolekulare Strukturen bilden. Bereits in einer früheren Arbeit haben die Jenaer Forscher bewiesen, dass sich solche Aggregate teilweise reversibel auf Oberflächen immobilisieren lassen. „Jetzt ist es uns aber erstmals gelungen, den Prozess der Aggregation und der vollständigen Wiederauflösung der Aggregate zu messen“, so Melanie Nikolajski.

Die Veröffentlichung der Jenaer Chemiker und ihrer britischen Kollegen hat bereits eine lebhafte Debatte in der Fachwelt angestoßen. So werde erwartet, dass ihre Entdeckung die Grundlage für das Design neuer funktionaler Polymere bildet, berichtet Chemiker Heinze. Als potenzielles Anwendungsgebiet nennt er die Weiterentwicklung von Teststreifen in der Medizin etwa von Schwangerschaftstests. „Diese funktionieren, indem immobilisierte Eiweiße mit der jeweiligen zu testenden Substanz wechselwirken“, erläutert er. Allerdings biete sich für diese Wechselwirkung nicht immer eine optimale chemische Umgebung, was die Sensitivität der Teststreifen einschränken kann. Und genau hier könnte die selbstaggregierende Aminozellulose einen Vorteil bieten. „Die Aminozucker können den Eiweißen im Teststreifen eine natürlichere Umgebung schaffen, was ihre Aktivität erhöht und damit die Nachweisgrenze des Teststreifens deutlich senken kann.“

Original-Publikation:
Nikolajski M et al. Protein-like fully reversible tetramerisation and super-association of an aminocellulose. Scientific Reports (2014), DOI: 10.1038/srep03861
Kontakt:
Prof. Dr. Thomas Heinze
Institut für Organische Chemie und Makromolekulare Chemie der Universität Jena
Humboldtstraße 10, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 948270
E-Mail: thomas.heinze[at]uni-jena.de

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Dr. Ute Schönfelder idw

Weitere Informationen:

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