Jenseits des Wachstums

Es ist ein zähes Ringen derzeit im Weißen Haus in Washington: Wenn sich Demokraten und Republikaner nicht auf eine Anhebung der Schuldenobergrenze einigen, droht der Wirtschaftsmacht USA am 2. August die Zahlungsunfähigkeit.

Mit der Krise ihrer Staatsfinanzen stehen die USA jedoch nicht allein: Vor wenigen Tagen erst haben die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds den drohenden Staatsbankrott Griechenlands nur durch Hilfszahlungen in Milliardenhöhe abwenden können – vorerst. Andere EU-Staaten stehen vor ähnlich gravierenden Problemen.

Welche gesellschaftlichen Verwerfungen auf uns zukommen, wenn ökonomische Wachstumszwänge weiterhin das Staatshandeln bestimmen, Wachstumskrisen aber die Wohlfahrtsentwicklung nicht nur einzelner Nationen, sondern ganzer Weltregionen gefährden, das wird in den kommenden vier Jahren eine neue Forschergruppe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena intensiv untersuchen. Die in der Soziologie angesiedelte Kolleg-Forschergruppe „Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung. Dynamik und (De-)Stabilisierung moderner Wachstumsgesellschaften“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bis 2015 mit gut drei Millionen Euro gefördert. Eine Fortsetzung für weitere vier Jahre ist möglich.

„Was wir im Moment sehen ist, dass das bisher geltende Prinzip, wonach sich moderne Gesellschaften durch dynamisches Wachstum stabilisieren, nicht mehr funktioniert“, konstatiert Prof. Dr. Klaus Dörre von der Uni Jena. Bislang, so der Wirtschaftssoziologe, seien steigende ökonomisch-technische Effizienz und wachsender materieller Wohlstand stets Basis für gesellschaftliche Stabilität gewesen. Doch dieser Zusammenhang sei gegenwärtig in Frage gestellt, so Dörre mit Blick auf die gewaltsamen Proteste beispielsweise der griechischen Bevölkerung gegen den drastischen Sparkurs ihrer Regierung.

„Die Grenzen der konventionellen Wachstumsorientierung sind erreicht“, macht auch Prof. Dr. Hartmut Rosa deutlich. Strukturelle Probleme, wie knapper werdende Ressourcen, ließen sich nicht durch weiteres Wachstum lösen, sagt der Jenaer Soziologe, der gemeinsam mit seinen Fachkollegen Prof. Dr. Klaus Dörre und Prof. Dr. Stephan Lessenich Sprecher der neuen Forschergruppe ist. „Deutlich spürbar ist mittlerweile vor allem die Tatsache, dass ausgerechnet jene Strategien, die zur Überwindung der ökonomischen Krise führen sollen, tendenziell zur Verschärfung der ökologischen Krise beitragen“, ergänzt Prof. Dr. Stephan Lessenich. „Gleichwohl stellen weder Unternehmen, Regierungen noch die wichtigsten gesellschaftlichen Kollektivakteure die Wachstumsorientierung bislang ernsthaft in Frage.“

In der neuen Kolleg-Forschergruppe wollen die Soziologen der Jenaer Universität im Verbund die Wechselbeziehungen zwischen dynamischer Selbststabilisierung und den Legitimationsmechanismen moderner Gesellschaften analysieren. Konkret wollen sie vier Fragestellungen beleuchten: Was bedeutet der Übergang zu Nicht-Wachstum für die Organisation gesellschaftlicher Arbeit und die Funktion sozialer Konflikte? Kann die Abkehr vom Wachstumsparadigma mit einem Zugewinn an Lebensqualität für gesellschaftliche Mehrheiten einhergehen? Was impliziert der Übergang zu Nicht-Wachstum für die Struktur sozialer Ungleichheit, für sozialpolitische Interessenlagen und die Regulationsfähigkeit entwickelter Wohlfahrtsstaaten? Und: Kann der Übergang zu Post-Wachstumsgesellschaften demokratisch bewältigt werden?

Das Forschungskolleg biete eine geradezu einzigartige Chance, die bereits praktizierte dialogische Arbeitsweise fortzuführen und zu vertiefen, sind sich die Initiatoren sicher. Das Kolleg verstehe sich als Laboratorium, in dem anerkannte Experten, Nachwuchswissenschaftler und Vertreter gesellschaftlicher Praxisfelder gemeinsam arbeiten werden. Als international sichtbares Forum werde das Kolleg auch Raum für öffentliche Debatten bieten. Ihren Sitz wird die Forschergruppe „Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung. Dynamik und (De-)Stabilisierung moderner Wachstumsgesellschaften“ in der Humboldtstraße 34 haben, wo bis vor kurzem der Sonderforschungsbereich 482 der Universität Jena „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ angesiedelt war.

Kontakt:
Prof. Dr. Klaus Dörre, Prof. Dr. Stephan Lessenich, Prof. Dr. Hartmut Rosa
Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Carl-Zeiß-Straße 2, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 945520, 03641 / 945550, 03641 / 945510
E-Mail: klaus.doerrre[at]uni-jena.de, stephan.lessenich[at]uni-jena.de, hartmut.rosa[at]uni-jena.de

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Dr. Ute Schönfelder idw

Weitere Informationen:

http://www.uni-jena.de

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