Die Furcht kommt erst, wenn der Körper schon zittert

Unbewusste visuelle Wahrnehmungen lösen Gefühle aus – Vorabveröffentlichung in ’Nature Neuroscience’

Bilder, die an schlechte Erfahrungen erinnern, beschleunigen den Kreislauf und erzeugen ein Gefühl des Unwohlseins – etwa ein großer Hund mit gefletschten Zähnen oder der Blick in eine Zahnarztpraxis. Doch müssen wir diese Bilder eigentlich bewusst wahrnehmen, damit solche unguten Gefühle entstehen können? Silke Anders, Prof. Niels Birbaumer und Dr. Martin Lotze vom Institut für Medizinische Psychologie der Universität Tübingen sind dieser Frage mit Experimenten an Patienten nachgegangen, deren Sehrinde teilweise geschädigt war. Die Studie entstand in Zusammenarbeit mit Dr. Bettina Sadowski von der Tübinger Universitäts-Augenklinik sowie Dr. Michael Erb, Dr. Irina Mader und Prof. Wolfgang Grodd von der Tübinger Radiologischen Universitätsklinik. Die Forschungsergebnisse wurden von der renommierten Fachzeitschrift Nature Neuroscience am 14. März online vorab veröffentlicht.

Die Tübinger Forscher führten ihre Studie an Menschen durch, die an Rindenblindheit leiden. Bei dieser Erkrankung sind das Auge und der Sehnerv intakt, doch ein Teil der Bereiche in der Großhirnrinde, die eine bewusste visuelle Wahrnehmung erst möglich machen, geschädigt, zum Beispiel durch einen Schlaganfall oder eine Schädel-Hirn-Verletzung. Die Menschen haben also ein eingeschränktes Blickfeld. Den Versuchsteilnehmern wurde zunächst ein Bild eines Mannes mit neutralem Gesichtsausdruck gezeigt, dass bald mit einem unangenehmen Schrei gepaart wurde. Später wurde ihnen allein das Gesicht in dem geschädigten Teil ihres Gesichtsfeldes präsentiert – obwohl die Versuchsteilnehmer das Gesicht dann nicht bewusst sehen konnten, löste es emotionale Reaktionen aus. Die Biologin Silke Anders vermutet, dass für diese Reaktionen stammesgeschichtlich alte Strukturen des Gehirns verantwortlich sind. Aus solch stammesgeschichtlich alten Bahnen könnten visuelle Informationen zur Amygdala (Mandelkern) tief im Innern des Gehirns gelangen und dort emotionale Reaktionen auslösen, ohne dabei die Sehrinde im Großhirn zu passieren. Doch die Darbietung des Gesichts führte nicht nur zu einer Verstärkung unwillkürlicher emotionaler Reaktionen. Die Versuchsteilnehmer berichteten auch von negativen Gefühlen in Gegenwart des Gesichts. Offensichtlich kann also auch eine visuelle Wahrnehmung, die nicht bewusst wird, Gefühle auslösen.

Mit Hilfe eines bildgebenden Verfahrens, der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT), konnte die Region im Gehirn identifiziert werden, die vermutlich die neuroanatomische Grundlage für die von den Versuchsteilnehmern berichteten Gefühle darstellt: Der Bereich der Großhirnrinde, in dem Sinneseindrücke aus dem Körper ankommen und repräsentiert werden. Die Tübinger Forscher vermuten, dass hier auch körperliche emotionale Reaktionen repräsentiert werden und so zu Gefühlen führen: Dieser Bereich war bei den Versuchsteilnehmern umso stärker aktiviert, je genauer die von ihnen berichteten negativen Gefühle mit den gemessenen unwillkürlichen emotionalen Reaktionen übereinstimmten.

Silke Anders sieht in diesen Studienergebnissen eine Bestätigung der mehr als hundert Jahre alten Vermutung des amerikanischen Psychologen William James (1842 – 1910): Der sagte, nicht weil wir etwas Bestimmtes sehen, beginnen wir uns zu fürchten und zu zittern, sondern weil wir zittern, fürchten wir uns.

Nähere Informationen:

Silke Anders
Institut für Medizinische Psychologie
Gartenstraße 29, 72074 Tübingen
Tel. 07071/29873-83
E-Mail: silke.anders@med.uni-tuebingen.de

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Michael Seifert idw

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