Lösung für verzwickte Innovationsprobleme

Geburtsort für manche Innovationen: Das Prototyping Lab im i.DT

Ist es möglich, eine innovative Idee für einen Computertomograph mit Legosteinen zu vermitteln oder ein Rettungsgerät für Minenarbeiter mit bunten Zetteln? Im Industrial Design Thinking (i.DT) Center bei Siemens Corporate Technology (CT) in Peking sind solche skurrilen Dinge ein wichtiger Teil eines ernsthaften Produktentwicklungprozesses. Die Arbeit mit Schere und Spielzeug öffnet Perspektiven und hilft Siemens-Ingenieuren, ihre Ideen zu vermitteln und im frühen Entwicklungsprozess schnell zu testen und weiterzuentwickeln.

Industrial Design Thinking heißt die Methode, die bei Siemens CT in China seit Anfang 2012 für verzwickte Innovationsprobleme verwendet wird. Nicht nur die Lösung ist unbekannt, auch die Herausforderungen auf Seite des Kunden liegen im Dunkeln. Wie der Name schon andeutet: Der Kreativprozess nutzt stärker als andere Methoden visuelle und haptische Eindrücke, „das kommt den chinesischen Kollegen und Nutzern sehr entgegen“, sagt Dr. Bettina Maisch, die das i.DT-Center und -Programm in der chinesischen Hauptstadt aufgebaut hat.

Eine Stärke von Design Thinking ist, dass es auch Bedürfnisse aufspürt, die dem Nutzer gar nicht bewusst sind und die er nicht artikulieren kann. „Hidden needs“ nennt das die Expertin. Dazu nehmen die Teilnehmer in Rollenspielen die Perspektive von verschiedenen Nutzertypen ein. Die Ideen werden in mehreren schnellen rekursiven Schleifen mit Bastelmaterial gebaut, mit jedem Durchlauf ein wenig genauer.

Mehrere Monate und einige Workshops lang kann der Prozess dauern, angefangen von der Definition des Innovationsziels bis einem Verkaufsgespräch. Das definiert die ursprüngliche Herausforderung aus Sicht des Nutzers, erläutert anhand eines Prototyps welche Lösung gefunden wurde und welchen Nutzen er dem Kunden bietet.

Der Ansatz entstand in Palo Alto

Vorbild der CT-Forscher sind die Begründer des Design Thinking: drei US-Informatiker, darunter David Kelley, Gründer der Innovationsberatung IDEO und Professor an der Stanford University in Palo Alto. Anfang der 1990er Jahre suchten sie eine Methode, um die Wünsche von Nutzern in einer sehr frühen Phase des Innovationsprozesses einzubringen.

2005 spendete SAP-Mitgründer Hasso Plattner 35 Millionen Dollar, um das Hasso Plattner Institute of Design in Palo Alto zu gründen. Sein Ziel ist, eine Generation von Innovatoren für komplexe Herausforderungen vorzubereiten, kreatives Selbstvertrauen zu fördern und sie über die Grenzen traditioneller akademischer Disziplinen hinauszuführen.

Die Methode der designorientierten Entwicklung funktioniert ausgezeichnet im akademischen Umfeld und wurde bereits erfolgreich für Konsumgüter angewandt. Doch Käufer von Handys oder Autos sind nicht die Zielkunden von Siemens. Die kaufen Investitionsgüter, die Strom erzeugen oder die Produktivität in Fabriken steigern. Bettina Maisch und ihr Team haben die Methode von IDEO und der Stanford Universität adaptiert und für die Anforderungen des Unternehmens, seiner Mitarbeiter und Zielmärkte weiterentwickelt.

Was will der Nutzer?

„Bei unserem Ansatz gehen wir raus und beobachten und sprechen mit den Nutzern“, sagt Li Zhi Hao, der die i.DT-Aktivitäten in China seit 2015 leitet, „und so zeigen wir, dass wir durch ein tieferes Verständnis neue Chancen identifizieren können, die unseren Kunden sowie Siemens Nutzen stiften.“ Um diese Chancen zu entdecken, begleiten die Innovationsteams von Corporate Technology und der Geschäftseinheit Nutzer in ihrem Arbeitsumfeld. In einem Projekt in Wuhan lag der ursprüngliche Fokus darauf, die bestehende intelligente Verkehrsmanagement-Lösung zu verbessern. Das Team ging auf die Straße und interviewte verschiedene Beteiligte wie Fußgänger, Verkehrspolizisten und Taxifahrer.

Heraus kam eine mobile Anwendung, die es Polizisten erlaubt, schnell und einfach die Kontrolle über die Ampeln zu übernehmen. „Bei vielen Projekten haben wir mit Industrial Design Thinking herausgefunden, dass es eigentlich um ganz andere Bedürfnisse ging, als die Geschäftsbereiche ursprünglich gedacht hatten“, sagt Li Zhi Hao. Ein Beispiel ist ein neues Urin-Analysegerät. Normalerweise werden darin Teststreifen chemisch untersucht.

Siemens hat 80 Prozent Anteil am Weltmarkt, in China aber nur zwei Prozent, angeblich wegen des zu hohen Preises. Das neue Gerät dürfe dort wie die Konkurrenzprodukte nur noch 50 Euro kosten, so die Forderung aus dem Geschäftsbereich. Doch durch Feldforschung entdeckte das Team eine andere Geschäftschance in der Urin-Analyse. Interviews mit Nieren-Spezialisten und Laborleitern ergaben, dass geschultes Laborpersonal in zentralen Laboren 70 Prozent der vollautomatischen Urinanalysen von Hand mit einem Mikroskop nachkontrollieren müssen, weil die Messergebnisse kommerzieller Geräte zu ungenau sind.

In enger Zusammenarbeit mit dem Diagnostik-Geschäftsbereich entschied man, ein Produkt zu entwickeln, das diese Lücke schließt. Die Lösung: Ein Mikroskop, in das die Probe zwar manuell eingelegt wird, das die Feststoffe im Urin aber über eine automatische Bildverarbeitung bestimmt und schneller ist als die Begutachtung mit dem Auge. Dies ist nur ein Beispiel, wie Daten aus erster Hand der Feldforschung und die Offenheit für neue aber vielversprechende Chancen eine sinnvolle Richtung für die Entwicklung neuer Produkte bei Siemens weisen.

Chinesen denken visuell und spielerisch

Warum hat sich ausgerechnet Peking als Keimzelle des Design Thinking bei Siemens etabliert? „Die vielen unterschiedlichen Nutzerbedürfnisse in China sind ein wichtiger Innovationstreiber“, erklärt Dr. Arding Hsu, der bis 2014 Leiter der CT China war und die Methode vor drei Jahren einführen ließ. Hinzu kommt, dass Chinesen gerne spielerisch und visuell denken und arbeiten, Modelle basteln und diese Schritt für Schritt verbessern – alles Eigenschaften, die vom Design Thinking aufgegriffen werden.

Was sich in China bewährt hat, soll nun auch Kollegen in anderen Ländern helfen, innovativere Produkte zu entwickeln. Bettina Maisch arbeitet seit Anfang 2015 bei Corporate Technology in München Neuperlach. Dort und in Erlangen-Nürnberg soll sie ein Team für Industrial Design Thinking aufbauen, das die Business Units in Deutschland unterstützt.

In Peking nimmt ihr Kollege Li Zhi Hao im Frühjahr 2015 das deutlich erweiterte i.DT-Labor in Betrieb – mit größeren Workshopräumen, speziellen Projekträumen und einem „Shop“ bestückt mit den 3D-Druckern, CNC- und Laserschneidmaschine, um die groben Prototypen auf das nächste professionelle Level zu heben. „Industrial Design Thinking ist ein wichtiger Baustein, um näher an die Kunden zu kommen“, sagt Bettina Maisch, „die Innovationskultur bei Siemens wird davon profitieren.“
Bernd Müller

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