Jugendliche zwischen Vertrauen und Skepsis

Nur Können und Einsatzbereitschaft sind für den beruflichen und sozialen Aufstieg erforderlich, glauben Jugendliche zunächst. Mit zunehmender Erfahrung erweitern sie ihr Gesellschaftsbild und erkennen, dass Erfolg und Misserfolg auch andere Ursachen wie soziale Herkunft und Beziehungen haben können.

„Es gibt sensible Phasen im Leben, in denen sich nicht nur das Selbstbild, sondern auch das Gesellschaftsbild verändert,“ sagt der Erziehungswissenschaftler Rainer Watermann vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Er hat in seiner Dissertation über die „Gesellschaftsbilder im Jugendalter“ Jugendliche über Jahre hinweg zu ihren Überzeugungen befragt und ihr Wissen um Gesellschaft und Politik getestet. Seine Arbeit basiert auf der großen Längsschnittstudie „Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugend- und jungen Erwachsenenalter“ (BIJU), die seit etwa zwölf Jahren Heranwachsende begleitet. Jugendliche hinterfragen oftmals ihr Gesellschaftsbild, wenn sie den Schonraum Schule verlassen und sich auf dem Arbeitsmarkt behaupten müssen.

„Bei Heranwachsenden dominieren zunächst noch recht einfache Erklärungen für gesellschaftlichen Erfolg, sie führen sozialen Aufstieg auf individuelle Eigenschaften wie die Leistung zurück“, sagt Watermann. Im Jugendalter entwickelt sich die Reflexionsfähigkeit, eigene Erfahrungen sowie der Austausch mit Gleichaltrigen nehmen zu und auch in verschiedenen Schulfächern wird die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen gefordert. Zweifel über die Richtigkeit des eigenen Gesellschaftsbildes tauchen auf. Eine große Herausforderung stellt für viele Jugendliche der Übergang in die Arbeitswelt dar. Wenn sie bei der Suche nach einer Lehrstelle trotz großer Anstrengungen Misserfolge erleben, wächst bei ihnen oftmals die Überzeugung, dass sozialer und beruflicher Erfolg auch durch andere Faktoren wie Beziehungen, Glück oder die soziale Herkunft bestimmt wird. Dennoch halten sie weiterhin an der Überzeugung fest, dass Anstrengung und Einsatz letztlich belohnt würden. Jugendliche – so Watermann – entwickeln auf diese Weise ein Bild sozialer Ungleichheit, das mit Widersprüchen umzugehen versteht. „Besonders für benachteiligte Jugendliche hat es psychologisch Sinn, trotz erlebter Widerstände an einem meritokratischen Gesellschaftsbild festzuhalten. Diese Überzeugung hilft ihnen, sich auch in schwierigen Situationen zu motivieren und weiterhin schulische und berufliche Ziele zu verfolgen.“

Auffällig ist, dass Gymnasiasten ein deutlich differenzierteres Bild von Ursachen des gesellschaftlichen Aufstiegs haben als Gleichaltrige anderer Schulformen, obwohl sie – im Gegensatz zu Abgängern von Haupt- oder Realschulen – noch nicht mit der Arbeitswelt in Berührung gekommen sind. Dies sei unter anderem auf den anspruchsvolleren und stärker diskursorientierten Unterricht in den politisch bildenden Fächern im Gymnasium zurückzuführen, meint Watermann. Den anspruchsvollen Wissenstest der BIJU-Studie lösten Schüler und Schülerinnen eines Gymnasiums deutlich besser als ihre Altersgenossen in anderen Schulformen.

Jugendliche aus den neuen wie den alten Bundesländern glauben gleichermaßen, dass Anstrengung, Fleiß und Initiative den sozialen Aufstieg befördern. Gleichzeitig sind ostdeutsche Jugendliche aber kritischer in Hinblick auf die Gerechtigkeit des Systems. „Bei ostdeutschen Jugendlichen scheint das Gesellschaftsbild unter einer größeren Spannung zu stehen“, sagt Watermann. Er führt dies zum einen darauf zurück, dass auch mehrere Jahre nach dem Fall der Mauer Ungleichheiten zwischen Ost und West fortbestehen und dies von der Bevölkerung auch so wahrgenommen wird. Zum anderen spiegeln sich darin jedoch auch reale Verhältnisse aus DDR-Zeiten wider, als über den Zugang beispielsweise zu höheren Bildungsabschlüssen nicht nur nach Leistungsprinzipien, sondern auch ergänzend nach Maßgabe des politischen Wohlverhaltens entschieden wurde.

Im Anschluss will Watermann untersuchen, wie sich die Gesellschaftsbilder von Jugendlichen aus den alten und neuen Bundesländern entwickeln, wenn diese den Übergang in das Erwachsenenalter vollzogen haben.

Die Dissertation ist als Buch erschienen und wendet sich an Fachwissenschaftler und Studierende der Sozialwissenschaften. Rainer Watermann, Gesellschaftsbilder im Jugendalter: Vorstellungen Jugendlicher über die Ursachen sozialer Aufwärtsmobilität, Leske + Budrich, Opladen 2003, ISBN 3-8100-3797-4

Hinweis an die Redaktionen: Mit weiteren Fragen können Sie sich gerne an Dr. Rainer Watermann wenden. Sie erreichen ihn unter der Telefonnummer:030/ 82406-406 oder per E-Mail: watermann@mpib-berlin.mpg.de.

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Dr. Antonia Rötger idw

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