Unfallopfer Kind

Psychologen untersuchten Zusammenhang zwischen Verhalten im Straßenverkehr und anderen Gebieten: Wagemutige Kinder entscheiden sich schneller und nehmen mehr Risiken in Kauf

Jährlich verunglücken in Deutschland rund 41.000 Kinder unter 15 Jahren im Straßenverkehr, davon 260 tödlich (Statistisches Bundesamt, Zahlen für 2002). Der Autoverkehr ist damit mit Abstand die größte Bedrohung für Schulkinder, die oft erst in der ersten Klasse beginnen, Wege allein zurückzulegen und Erfahrungen im Straßenverkehr zu sammeln. Während manche Kinder dabei sehr vorsichtig sind, neigen andere dazu, Risiken eher zu unterschätzen und gehen schnell drauflos. Studien zeigen, dass solche waghalsigen Kinder wesentlich mehr Unfälle haben als ihre ängstlicheren Altersgenossen. Risikofreudige Kinder brauchen eine Verkehrserziehung, die mehr auf ihre Besonderheiten eingeht, meint Ulrich Hoffrage, Psychologe am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

Hoffrage und seine Mitarbeiter haben 22 Jungen und 22 Mädchen im Alter zwischen 5 und 6 Jahren aus einem Münchner Kindergarten auf ihre Risikofreudigkeit und ihr Verkehrsverhalten hin untersucht und dabei eine einfache Methode gefunden, um diejenigen Kinder zu identifizieren, die auch im Verkehr mehr Risiken eingehen: Ein Glücksspiel zeigt, welche Kinder besonders vorsichtig sind und welche die Gefahr nicht scheuen. Das Spielmaterial besteht aus zehn kleinen Schachteln, neun davon enthalten je einen (von Kindern sehr geschätzten) Sticker, eine Schachtel dagegen ist leer. Das Kind darf nun eine Schachtel nach der anderen öffnen und die darin gefundenen Sticker behalten. Es kann jedoch jederzeit auch aufhören und die Sticker einstecken, die es bis dahin gewonnen hat. Denn wenn es die leere „Teufelsschachtel“ aufmacht, dann sind alle bisher gesammelten Schätze verloren und das Spiel ist zu Ende. Mit jedem gefundenen Sticker steigt also das Risiko, auf die Teufelsschachtel zu treffen. Je nachdem, wann es den Kindern in diesem Spiel zu riskant wurde und sie abgebrochen haben, wurden sie in vorsichtige und wagemutige Kinder eingeteilt.

Diese Einteilung passte recht gut auf das Verhalten, das die gleichen Kinder an einer dicht befahrenen Einbahnstraße ohne Ampel oder Zebrastreifen zeigten. Jedes Kind stand zehn Minuten lang an der Bordsteinkante, beobachtete den Verkehr und sollte durch einen Schritt auf eine vor ihm liegende Signalmatte zeigen, wann es sicher sei, die Straße überqueren zu können. Die Szenen wurden gefilmt und akribisch ausgewertet, die Kinder waren durch Gurte gesichert. Das gemütliche Überqueren der Straße dauerte etwa sieben Sekunden, beim Rennen brauchten die Kinder drei Sekunden. Während die vorsichtigen Kinder fast ausnahmslos nur dann die Straße überqueren wollten, wenn mehr als sieben Sekunden Zeit bis zum Herannahen des nächsten Wagens blieb, waren die als risikofreudig klassifizierten Kinder häufiger bereit, es auch bei Abständen von deutlich weniger als sieben Sekunden zu probieren. Darüber hinaus haben sich die risikofreudigen Kinder nach dem Passieren des jeweils letzten Autos auch deutlich schneller zum Überqueren entschlossen als ihre vorsichtigen Altersgenossen.

Zwei weitere Ergebnisse sind ebenfalls bemerkenswert: Während nach landläufiger Meinung hauptsächlich die Jungen zu risikofreudig sind und tatsächlich auch häufiger verunglücken als gleichaltrige Mädchen, waren die im Experiment gefundenen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen weniger groß als vermutet. Das Verhalten bei dem einfachen Glücksspiel sagte das Verhalten im Verkehr besser voraus als etwa das Geschlecht. Mädchen, die beim Glücksspiel etwas riskierten, trauten sich auch zu, bei kurzen Lücken über die Straße zu rennen.

Das Verhalten der Kinder bei einer Verkehrssimulation am Computer erlaubte dagegen überraschenderweise kaum Rückschlüsse auf ihre tatsächliche Risikobereitschaft: Viele Kinder, die am Computer „Leib und Leben“ riskierten, verhielten sich am Straßenrand oder beim Glücksspiel durchaus vorsichtig. Hoffrage erklärt dies mit den Gewinnausschüttungen, die Kinder offenbar sehr wohl verstehen: Wenn es den Kindern gelang, ein auf dem Bildschirm gezeigtes Männchen über eine Straße mit simuliertem Verkehr zu schicken, gewannen sie Punkte – wurde das Männchen dabei von einem Auto erfasst, gab es Punktabzug. Im Gegensatz zur realen Situation an der Bordsteinkante konnten hier also verursachte Unfälle durch erfolgreiche Überquerungen wieder wettgemacht werden. „Das Glücksspiel dagegen ähnelt mehr der Verkehrssituation“, erklärt Hoffrage: „Entweder man bekommt, was man will – oder man verliert alles, was man hat. Wie bei einem Verkehrsunfall.“

Media Contact

Dr. Antonia Rötger Max-Planck-Gesellschaft

Weitere Informationen:

http://www.mpib-berlin.mpg.de

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