Ein Wurm beißt sich durch

Der Fadenwurm Pristionchus pacificus attackierten den kleineren Caenorhabditis elegans, reißt ihn an der Seite auf und frisst den auslaufenden Inhalt. Bild: Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie / Andreas Weller<br>
Unter Ralf Sommers Mikroskop spielen sich dramatische Szenen ab: Sein Forschungsobjekt, der Fadenwurm Pristionchus pacificus, verbeißt sich in einen anderen Wurm, reißt ein Loch in dessen Flanke und labt sich anschließend am ausfließenden Inhalt. Das sich windende Opfer hat in diesem Zweikampf keine Chance: Caenorhabditis elegans ist zwar ein naher Verwandter von Pristionchus, aber nicht mit denselben kräftigen „Zähnen“ ausgestattet. Im Fokus der Biologen vom Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie steht jedoch nicht die Jagdtechnik von Pristionchus, sondern die Entwicklung seiner Mundwerkzeuge. Gilberto Bento und Akira Ogawa aus Sommers Team haben den Steuerungsmechanismus entdeckt, der hinter der Mundentwicklung steckt: Wächst der Wurm mit reichlich Bakterien als Nahrung auf, so hat er später nur sehr kleine Zähne in einer schmalen Mundhöhle. Erlebt er als Larve jedoch Nahrungsmangel oder eine hohe Populationsdichte, so entwickelt er einen breiten, mit kräftigen zahnartigen Dentikeln ausgestatteten Mund. (Nature, 1. Juli 2010)
Breit- und schmalmundige Individuen unterscheiden sich genetisch nicht voneinander. „Vielmehr bestimmen Umweltfaktoren darüber, welche Mundwerkzeuge ein Fadenwurm ausbildet“, sagt Ralf Sommer, Direktor der Abteilung Evolutionsbiologie am Tübinger Max-Planck-Institut. Herrscht während einer sensiblen Phase in der Larvenentwicklung Nahrungsmangel, entwickeln sich fast ausschließlich Würmer mit breitem, stark bewehrtem Mund. Den gleichen Effekt hat ein Pheromon der Würmer. Es signalisiert eine hohe Populationsdichte, wenn es in hohen Konzentrationen vorhanden ist. In beiden Fällen – bei Nahrungsmangel und bei einer Überbevölkerung – wird ein körpereigener Signalweg aktiviert, der zur Entwicklung von kräftigen Zähnen führt und damit ein räuberisches Verhalten ermöglicht. Der Signalweg ist den Forschern bereits bekannt: Das Hormon Dafachronic Acid und sein Rezeptor sorgen auch dafür, dass sich die Würmer in Mangelzeiten nicht zu erwachsenen Individuen weiterentwickeln, sondern in einem Dauerlarvenstadium verharren, bis sich die Umweltbedingungen wieder bessern.
„Der Mund-Dimorphismus von Pristionchus veranschaulicht gleich zwei faszinierende Prinzipien der Evolution“, sagt Sommer. Zum einen zeigt er, wie sparsam die Evolution arbeitet: Bereits etablierte Signalwege werden in neuem Kontext wiederverwendet – ein Vorgang, den Biologen als Co-Option bezeichnen. Um eine Signalkette mit neuer Bedeutung zu belegen, genügt es, sie zu einem anderen Zeitpunkt oder mit einer anderen Konzentration des auslösenden Signalmoleküls anzustoßen, wie in diesem Fall. Zum anderen gilt die Existenz alternativer Körperstrukturen als Wegbereiter der Evolution: „Um die Mundstruktur dauerhaft zu verändern, müsste die genetische Steuerung lediglich von der Umweltabhängigkeit abgekoppelt werden“, erläutert Ralf Sommer.
Darüber, ob sich die kräftigere Mundform von Pristionchus besser zur Jagd auf andere Würmer oder zum Verzehr von Pilzen eignet, können die Tübinger Biologen bislang nur spekulieren. „Die Tatsache, dass sich der Mund-Dimorphismus im Verlauf der Evolution fest etabliert hat, lässt darauf schließen, dass er in freier Natur einen wichtigen Vorteil bietet“, sagt Ralf Sommer.
Originalveröffentlichung:
Gilberto Bento, Akira Ogawa, Ralf Sommer
Co-option of the hormone-signaling module Dafachronic Acid-DAF-12 in nematode evolution
Nature, 1. Juli 2010
Weitere Informationen erhalten Sie von:
Prof. Dr. Ralf Sommer (ab 5. Juli 2010)
Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, Tübingen
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