Eine Ampel für die Wahrnehmung

Blick ins Gehirn. Pyramidenbahn-Neurone im Neokortex der Ratte. Die Farben spiegeln die unterschiedlichen Hirnregionen wieder, die in diese Zellen die Ergebnisse neuronaler Berechnungen. Dr. Marcel Oberlaender / Forschungszentrum caesar

Wir sehen, riechen, hören und spüren Berührungen entlang unserer Haut. In jedem Moment verarbeitet unser Gehirn diese Sinneseindrücke und setzt sie in Wahrnehmung um. Diese Wahrnehmung beeinflusst schlussendlich unser Verhalten. Jener Teil des Gehirns, der sensorische Eindrücke in Wahrnehmung und Verhalten umwandelt, ist der Neokortex. Diese nahezu ausschließlich in Säugetieren zu findende Struktur ist die nur wenige Millimeter dicke Außenschicht des Gehirns. Sie wird daher auch als Großhirnrinde bezeichnet. Doch diese Schicht hat es in sich: Der Neokortex ist vollgepackt mit Nervenzellen, welche sich zu komplexen Netzwerken verbinden. Jeder Kubikmillimeter enthält hunderttausende Nervenzellen, die bis zu einer Milliarde synaptischer Verbindungen miteinander eingehen. Der Neokortex ist somit die komplexeste Struktur, die in der Biologie bekannt ist.

Der Neokortex: die Rechenzentrale des Verhaltens

Die Faszination des Neokortex liegt aber nicht nur in der Struktur, sondern auch in dessen Funktionsweise. Durch das komplexe Zusammenspiel vieler Nervenzellen kombinieren die Netzwerke des Neokortex sensorische Informationen und erstellen daraus ein umfassendes Sinnesbild unserer Umwelt. Die Weiterleitung dieser Ergebnisse kortikaler Berechnungen in tiefere Hirnregionen ist somit ein wesentlicher Baustein unseres Verhaltens.

Die Nervenzellen, welche die Ergebnisse kortikaler Berechnungen weiterleiten, sind seit Jahrzehnten bekannt. So genannte Pyramidenbahn-Neurone empfangen Informationen von tausenden Nervenzellen, die im gesamten Neokortex verteilt sein können, und erstellen daraus ein Ausgangssignal.

Ein Computermodell des Neokortex ermöglicht den Durchblick

Die Erforschung der Funktion neuronaler Netzwerke ist ungemein schwierig. Auch wenn man messen kann, wie Nervenzellen auf sensorische Information reagieren, ist es bislang nicht möglich, die Grundlagen dieser Aktivitätsmuster zu enthüllen.

Um dieses Problem in den Neurowissenschaften zu lösen, kombinierte die caesar-Forschungsgruppe „In Silico Brain Sciences“ Messungen im Tasthaarsystem von Ratten mit Computersimulationen. Dazu wurde die Aktivität aller Nervenzellen, die potentiell zu einem Ausgangssignal während sensorischer Wahrnehmung beitragen, gemessen. Anschließend wurde im Computer simuliert, wie die Pyramidenbahn-Neurone diese Informationen verarbeiten.

Die Ampel für den Neokortex

Diese Simulationen konnten nicht nur die Messungen im lebenden Tier reproduzieren, sondern machten Vorhersagen darüber, welche Nervenzellen im Gehirn die Ausgangsignale des Neokortex steuern. Hierbei machten die Forscher eine spannende Entdeckung. Sie identifizierten spezielle Nervenzellen, welche die Ausgangssignale der Pyramidenbahn-Neurone regeln. Diese Zellen wirken wie eine Verkehrsampel. Erst wenn sie aktiv werden, und „grünes Licht“ geben, leiten die Pyramidenbahn-Neurone Information aus dem Neokortex weiter.

„Das Bild einer Ampel passt recht gut“, sagt Dr. Oberlaender, Leiter der Studie. „Was wir gefunden haben zeigt, dass sensorische Informationen, die den Neokortex erreichen, zunächst hochspezielle Nervenzellen aktivieren. Ohne diese Zellen könnte keine Information den Neokortex verlassen. Diese Zellen schalten Pyramidenbahn-Neurone quasi auf grün.“

Die Entdeckung der „Ampel-Nervenzellen“ enthüllt ein grundlegendes Prinzip, wie sensorische Information in Verhalten umgewandelt wird. Darüber hinaus eröffnet die einzigartige Kombination von Experiment und Simulation neue Möglichkeiten zur Erforschung des Gehirns.

Die Ergebnisse der Studie werden am 26.11.2019 im renommierten Fachjournal „Neuron“ veröffentlicht. (s2)

Pressekontakt:
Sebastian Scherrer
Forschungszentrum caesar
Ludwig-Erhard-Allee 2
53175 Bonn
Tel.: 0228 – 9656 139
sebastian.scherrer@caesar.de

Über das Forschungszentrum caesar
caesar ist ein Forschungsinstitut für Neuroethologie. Hier untersuchen wir, wie aus der kollektiven Aktivität der Vielzahl miteinander vernetzter Neuronen im Gehirn tierisches Verhalten in seiner ganzen Bandbreite entsteht. Unsere Forschung ist interdisziplinär und findet auf verschiedensten Größenebenen statt.

Dr. Marcel Oberlaender
Forschungszentrum caesar
Max-Planck-Gruppe In Silico Brain Sciences
Ludwig-Erhard-Allee 2
53175 Bonn
Tel.: 0228 – 9656 380
marcel.oberlaender@caesar.de

Egger, Narayanan et al., Cortical Output Is Gated by Horizontally Projecting Neurons in the Deep Layers, Neuron (2019),
https://doi.org/10.1016/j.neuron.2019.10.011

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