Das Gehirn an der Grenze zum Chaos

Viele Systeme in der Natur steuern von selbst auf einen kritischen Zustand zu, der als höchst instabiles Gleichgewicht charakterisiert werden kann: Rieselt beispielsweise Sand langsam auf eine Oberfläche, häuft er sich an, bis der Böschungswinkel so steil ist, dass Sandlawinen die Böschung herunterstürzen.

Dabei gibt es keine typische Lawinengröße, in zufälliger Reihenfolge entstehen in einem gewissen Zeitraum viele kleine Lawinen, in anderen Fällen wenige große. Auch der Aufbau von Spannungen in der Plattentektonik der Erdkruste und die jeweilige Entladung durch Erdbeben ist ein Beispiel für diese „selbstorganisierte Kritikalität“, wie das Phänomen im Fachjargon heißt.

Dass die Signalweitergabe im Nervensystem ebenfalls diesem Prinzip folgt, haben Wissenschaftler um Michael Herrmann bereits 2002 auf der Basis von theoretischen Berechnungen vermutet, in den darauf folgenden Jahren wurde dies auch experimentell beobachtet. In einer neuen Studie ist es Herrmann nun gemeinsam mit seinen Kollegen Anna Levina und Theo Geisel, Wissenschaftler am Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience, dem Max Planck Institut für Dynamik und Selbstorganisation und der Universität Göttingen gelungen, die neuronalen Mechanismen zu identifizieren, die diesem Phänomen zu Grunde liegen. Die Arbeit wird in der renommierten Zeitschrift Nature Physics online am 18. November 2007 veröffentlicht.

Auch im Nervensystem gibt es Lawinen – nicht Sandlawinen, sondern Lawinen neuronaler Entladung. Sendet eine Nervenzelle einen elektrischen Impuls, so kann dies, muss aber nicht in einem nachgeschalteten Neuron ebenfalls einen Impuls auslösen. Je nachdem, ob eine Impulsweitergabe erfolgt und wie oft sich die Impulsweitergabe wiederholt, kommt es zu Ketten neuronaler Entladungen mit einer jeweils sehr unterschiedlichen Anzahl von Neuronen. „Auf diese Weise kann das Nervensystem das volle Spektrum seiner Reaktionsmöglichkeiten ausschöpfen – mal reagiert es stärker, in anderen Fällen weniger stark“, erklärt Herrmann. Bisher gelang es in Computersimulationen nur in Ausnahmefällen, ein neuronales Netzwerk in einen solchen kritischen Zustand zu bringen. In ihrer neuen Studie ist es den Wissenschaftlern aus Göttingen gelungen, selbstorganisierte Kritikalität eines Netzwerks im Computer realitätsnah zu modellieren und zu erklären, indem sie berücksichtigten, dass sich die Verbindungsstärke zwischen Neuronen durch die wiederholte neuronale Aktivität abschwächt.

Neurone leiten Informationen in Form von elektrischen Signalen weiter. Dort, wo zwei Neurone aufeinander treffen, an der Synapse, ist aber die Leitung unterbrochen und das Signal wird durch Botenstoffe von einer Zelle zur nächsten übertragen. „Der Vorrat an Botenstoffen wird durch die Aktivität der Synapse reduziert, so dass die Stärke der Signalübertragung abnimmt. Erst dadurch, dass der Speicher wieder aufgefüuellt wird, nimmt die Effizienz der Synapse wieder zu“, erklärt Levina. Lange Zeit hat man in dieser Erschöpfung des Vorratsspeichers nichts weiter als eine biologisch bedingte Unzulänglichkeit gesehen. Erst in den letzten Jahren wurde erkannt, dass dieser Mechanismus – synaptische Depression genannt – für die Funktion des Gehirns durchaus bedeutend ist. Die Wissenschaftler um Geisel haben nun erstmals gezeigt, dass dieser synaptische Anpassungsmechanismus das neuronale Netz in den Zustand selbstorganisierter Kritikalität an der Grenze zum Chaos treibt.

Originalveröffentlichung:
A. Levina, J. M. Herrmann, T. Geisel (2007). Dynamical Synapses Causing Self-Organized Criticality in Neural Networks. Nature Physics, onlie publiziert am 18.Nov 2007, doi: 10.1038/nphys758

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Katrin Weigmann idw

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