Variable Chromosomenzahl als Normalzustand: Neue Befunde aus Nervenzellen im Gehirn von Fischen
Untersuchungen neu gebildeter Neuronen in den Gehirnen ausgewachsener, gesunder Messerfische zeigten, dass bei rund 80% der Zellen eine Abweichung von der üblichen Anzahl von 22 Chromosomen vorliegt, die bis zu 70% betragen kann. Die Studie ist in der aktuellen Online-Ausgabe von Developmental Neurobiology (2007: doi: 10.1002/dneu.20365, http://www3.interscience.wiley.com/cgi-bin/abstract/114202979/ABSTRACT) veröffentlicht.
Bislang galt als gängige Lehrmeinung, dass jede Zelle eines Organismus die identische Erbinformation enthält, die auf einer arttypischen Anzahl von Chromosomen gespeichert ist. Ausnahmen bilden in diesem Zusammenhang allein Spermien und Eizellen, die je nur einen halben Chromosomensatz enthalten. Menschen beispielweise besitzen insgesamt 46 Chromosomen, 22 Paar autosomale Chromosomen und zwei Geschlechtschromosomen. Abweichungen in der arttypischen Anzahl, so der bisherige Forschungsstand, rufen im Allgemeinen schwere Beeinträchtigungen hervor. Das Down-Syndrom etwa, Ursache physischer und psychischer Behinderungen bei Menschen, entsteht durch ein überzähliges Chromosom 21, das drei- statt zweimal vorhanden ist. Die Symptome treten auch dann auf, wenn nur ein Teil der Zellen diese Anomalie aufweist, wenn die Zellen also hinsichtlich ihrer Erbinformation ein genetisches Mosaik darstellen. Dass eine abweichende Anzahl an Chromosomen mit gravierenden Defekten im Organismus einhergeht, wird auch durch jüngste Studien bestätigt, die zeigen, dass viele, wahrscheinlich sogar alle Tumoren eine merkliche Variationen der Chromosomenzahl in ihren Zellen aufweisen.
Günther Zupanc konnte, zusammen mit seinem Team an der Jacobs University sowie den Arbeitsgruppen seiner Forscherkollegen Jerold Chun in La Jolla und Andreas Lösche in Leipzig, nun nachweisen, dass die Neuronen in den Gehirnen des Messerfisches Apteronotus leptorhynchus ein genetisches Mosaik hinsichtlich ihrer Chromosomenzahl bilden. Wie auch andere Knochenfische zeichnet sich diese Art durch ihr enormes Potenzial aus, kontinuierlich neue Neuronen im ausgewachsenen Gehirn zu produzieren. Mikroskopische Untersuchungen von Präparaten dieser neu gebildeten Nervenzellen, die ausschließlich von gesunden Fischen stammten, ergaben, dass nur rund ein fünftel die für diese Art typische Anzahl von 22 Chromosomen aufweist. Die Mehrzahl der Neuronen verfügt über weniger, manche Zellen jedoch auch über mehr Chromosomen. Mit bis zu 16 fehlenden bzw. 12 zusätzlichen Chromosomen weicht die Summe in vielen Fällen drastisch von der gewöhnlichen Anzahl von 22 ab.
Durch die Analyse von Zellen im Teilungsstadium konnten die Wissenschaftler außerdem zeigen, dass Unregelmäßigkeiten bei der mitotischen Zellteilung für die Chromosomenvariabilität verantwortlich sind: Anstelle der üblichen symmetrischen Teilung, die Tochterzellen mit gleichen Chromosomenzahlen hervorbringt, erfolgt eine asymmetrische Teilung, bei der Tochterzellen mit unterschiedlicher Chromosomenzahl entstehen.
Günther Zupanc über die Bedeutung des Untersuchungsergebnisses: „Wir vermuten, dass es sich bei der von uns beobachteten Variabilität der Chromosomenzahl um einen Regelmechanismus für Genaktivität handelt, der für einige, vielleicht sogar alle Organismen ein ganz normaler Teil ihrer Entwicklung ist.“ Zellen, die mehr als zwei Kopien eines bestimmten Chromosoms enthalten, produzieren vermutlich eine größere Menge eines Proteins, das durch ein auf dem Chromosom befindlichen Gen kodiert ist, Zellen mit weniger als dem gängigen Chromosomenpaar dagegen weniger. „Auf diese Weise wird durch einen einfachen Mechanismus eine erhebliche Variabilität in der Wirksamkeit ein und derselben genetischen Information erreicht“, so Zupanc weiter. Neben einem besseren Verständnis der Vielfalt normaler Entwicklungsmechanismen von Lebewesen sind die Resultate der Untersuchung nach Ansicht des Bremer Neurobiologen aber auch von medizinischer Relevanz. „Langfristig werden wir auch in der Lage sein, die Rolle abweichender Chromosomenzahlen bei der Entstehung von Krankheiten, etwa bei der Bildung von Tumoren, besser zu verstehen“, schlussfolgert der Wissenschaftler der Jacobs University.
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