Studie zu verdeckter Armut – Mindestens 1,8 Millionen Bedürftige leben ohne staatliche Hilfe

Die verdeckte Armut in Deutschland erreicht fast die Größenordnung der statistisch erfassten und bekämpften. Neben den 2,8 Millionen Menschen, die staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten, leben in der Bundesrepublik mindestens 1,8 Millionen Bedürftige ohne öffentliche Unterstützung. Das zeigt eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie der Frankfurter Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Richard Hauser und Dr. Irene Becker. Im Jahre 2003 kamen nach Analyse der Armutsforscher auf drei Empfänger von Sozialhilfe als Hilfe zum Lebensunterhalt „mindestens zwei, eher drei Berechtigte“, die sich nicht bei den Behörden meldeten. Das entsprach 1,8 bis 2,8 Millionen Menschen. Nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe dürfte die Zahl tendenziell gesunken sein, weil die Dunkelziffer unter den Arbeitslosen zurückging – in anderen Gruppen hingegen nicht. Deutlich überproportional von verdeckter Armut betroffen sind allein stehende Frauen über 60 Jahre. Zudem sehen die Forscher Indizien, dass das auch für die ausländische Bevölkerung gilt.

Als arm definiert die Untersuchung Menschen, die nicht über das gesetzlich festgelegte Existenzminimum verfügen. Prof. Dr. Hauser und Dr. Becker werteten drei große Haushaltsstichproben aus: die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes, das Sozio-Ökonomische Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sowie das Niedrigeinkommenspanel von Infratest Sozialforschung. Auf dieser Basis kalkulierten sie die verdeckte Armut für 1998. Ergänzende Auswertungen zeigen: die Zahlen haben sich bis 2003 kaum verändert.

Eine wesentliche Ursache dafür, dass Bedürftige auf staatliche Hilfe verzichten, ist Unwissenheit. So geht in Befragungen mehr als die Hälfte der verdeckt Armen davon aus, Sozialhilfe zurückzahlen zu müssen. Dass auch Beschäftigte Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe hatten, war vielen nicht bekannt, zeigt die Analyse. Die Hartz-Gesetze dürften dieses Informationsdefizit vergrößert haben, schätzen die Wissenschaftler: „Die Working Poor dürften sich noch seltener als anspruchsberechtigt sehen als vor der Reform – denn sie sind ja nicht arbeitslos.“

Auch Furcht vor Stigmatisierung schreckt viele eigentlich Unterstützungsberechtigte ab. Um verdeckte Armut zu bekämpfen, empfehlen die Forscher mehr Informationen und aufsuchende Sozialarbeit. Politiker sollten „verallgemeinernde Äußerungen über angeblich verbreiteten Missbrauch des Wohlfahrtsstaates“ vermeiden.

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Rainer Jung idw

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