Tarifverträge: Experten fordern erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung

Für eine erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen sprechen sich der Arbeitsrechtler Prof. Dr. Ulrich Zachert von der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik sowie Experten des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung aus. Auf diese Weise soll eine breitere Geltung der tariflichen Mindeststandards erreicht und das Tarifvertragssystem stabilisiert werden.

Nach dem Tarifvertragsgesetz (§5) kann der Arbeitsminister die Geltung eines (Verbands-)Tarifvertrags auf alle (also auch die nicht tarifgebundenen) Betriebe eines Tarifbereichs ausdehnen. Durch eine solche Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) soll soziales Dumping durch Lohndrückerei und sog. „Schmutzkonkurrenz“ zwischen den Betrieben verhindert werden und bestimmte tariflich vereinbarte Einrichtungen, wie z.B. branchenbezogene Sozialkassen zur Finanzierung der betrieblichen Ausbildung oder der Alterssicherung, in ihrer Existenz gesichert werden. Voraussetzungen für eine AVE sind: (a) Mehrheitliche Zustimmung des paritätisch von Spitzenverbänden der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände besetzten Tarifausschüsse beim Bund bzw. bei den Ländern; (b) mehr als 50% der in den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer müssen bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sein und (c) die AVE muss im öffentlichen Interesse geboten erscheinen.

In der vom WSI erstellten Studie „Mindeststandards für Arbeits- und Einkommensbedingungen und Tarifsystem“ für das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit Nordrhein-Westfalen konstatieren die Wissenschaftler eine Krise der AVE: Seit Beginn der 90er Jahre hat sich der der Anteil der allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge an allen geltenden Ursprungstarifverträgen auf weniger als die Hälfte verringert und liegt heute bei 2,5%. Der wichtigste Grund für diesen Rückgang liegt in der zunehmend ablehnenden Haltung der Arbeitgeberseite zu diesem Instrument: In den Tarifausschüssen haben die Arbeitgebervertreter in den letzten Jahren sehr viel häufiger als früher von ihrem Vetorecht gegen AVE-Anträge Gebrauch gemacht – manchmal auch gegen den Willen des betreffenden Branchenarbeitgeberverbands. Die Folge ist, dass die Allgemeinverbindlichkeit in Branchen, in denen sie früher regelmäßig beantragt und ausgesprochen wurde (wie z. B. dem Einzelhandel), heute kaum noch eine Bedeutung hat.

Da die Allgemeinverbindlichkeit sachlich häufiger geboten ist als sie – bei den geltenden gesetzlichen Regelungen – ausgesprochen wird (bzw. werden kann), fordern die genannten Experten eine Erleichterung des AVE-Genehmigungsverfahrens. Die Vorschläge zur Reform der AVE-Bestimmungen des Tarifvertragsgesetzes beziehen sich auf

  • eine veränderte Zusammensetzung der Tarifausschüsse bzw. Abschaffung des Zwangs zur Einvernehmlichkeit zwischen Gewerkschafts- und Arbeitgeberseite bei der Entscheidung über AVE-Anträge; eine AVE könnte dann notfalls auch gegen die Stimmen der Arbeitgeberseite ausgesprochen werden;
  • eine Herabsetzung der bislang geltenden 50%-Quote, sodass eine AVE auch dann ausgesprochen werden könnte, wenn weniger als die Hälfte der Arbeitnehmer des betreffenden Tarifbereichs in tarifgebundenen Betrieben arbeiten;
  • eine Konkretisierung des Zustimmungskriteriums „öffentliches Interesse“.

Eine solche Reform entspricht auch dem Interesse der betrieblichen Interessenvertretungen: In der repräsentativen WSI-Betriebsrätebefragung haben sich 50 Prozent der Befragten dafür ausgesprochen, dieses Instrument stärker zu nutzen als bisher.

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Karin Rahn idw

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