Wenn die Seele verhungert

Abb.: Vier-Länder-Vergleich von Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen 9 und 13 Jahren. <br> <br>Grafiken: MPI für Psychiatrie/Rohrer <br>

Mit einem besonderen Konzept therapieren Max-Planck-Wissenschaftler Patienten mit Essstörungen / Neueste MaxPlanckForschung mit dem ersten TECHMAX erschienen

Etwa jedes zweite Mädchen und jeder dritte Junge im Alter zwischen 9 und 13 Jahren ist mit seiner Figur unzufrieden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Therapie-Centrums für Essstörungen (TCE) am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Nach Ansicht von Dr. Monika Gerlinghoff und Dr. Herbert Backmund vom TCE muss sich die Prävention von psychischen Krankheiten wie Bulimie oder Magersucht daher auf Schülerinnen und Schüler konzentrieren. Über ihre Konzepte zur Prävention und Therapie berichten die Wissenschaftler in der jetzt erschienenen MaxPlanckForschung (1/2003), der die erste Ausgabe des TECHMAX beiliegt.

Für die Studie haben Monika Gerlinghoff und Herbert Backmund vom TCE 488 Schülerinnen und 266 Schüler der 5. Jahrgangsstufe im Alter zwischen 9 und 13 Jahren mit Fragebogen untersucht. Die Frage „Wolltest du jemals dünner sein?“ haben 49 Prozent der Mädchen und 36 Prozent der Jungen bejaht, im Durchschnitt also 43 Prozent der Kinder. Auf die Frage „Hast du jemals versucht abzunehmen?“ haben 34 Prozent der Mädchen und 30 Prozent der Buben (Durchschnitt 33 Prozent) mit ja geantwortet. Diese Resultate ähneln jenen aus den USA, Israel und Australien (Abb.).

Essstörungen wie Magersucht (Anorexia nervosa), Bulimie (Bulimia nervosa) und neuerdings auch Fresssucht (Binge-Eating-Störung) zählen zu den psychischen Krankheiten. Ein gemeinsames Merkmal ist die krankhafte Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Körpergewicht und Figur. Magersüchtige haben panische Angst vor jeder Gewichtszunahme. Sie fühlen sich zu „fett“ – auch wenn sie schon bedrohlich abgemagert sind. Hungern wird für sie zur Leistung, die sie zwanghaft erbringen. Bulimie-Kranke erliegen anfallsartig auftretendem Heißhunger. Während dieser Attacken verschlingen sie große Nahrungsmengen. Um eine unerwünschte Gewichtszunahme zu vermeiden, setzen sie Gegenmittel ein: Erbrechen oder abführende und entwässernde Medikamente im Übermaß (Purging-Typ) oder eine anschließende Nulldiät und gesteigerte körperliche Bewegung (Non-Purging-Typ). Bei der Binge-Eating-Störung schließlich unternehmen die Patienten nach einer Heißhungerattacke nichts, um die zu viel aufgenommene Nahrung wieder loszuwerden. Deshalb kommt es allmählich zu einer Gewichtszunahme.

An Essstörungen erkranken vor allem Mädchen und junge Frauen. In dieser Altersgruppe rechnet man für Magersucht mit einer Häufigkeit von 0,5 bis 1 Prozent, für Bulimie von 3 bis 5 Prozent – mit allerdings großer Dunkelziffer. Männer sind ungefähr im Verhältnis 10 zu 1 betroffen. Essstörungen sind langwierige und aufwändige Krankheiten, und sie haben eine ungünstige Prognose. Zusätzlich auftretende psychiatrische Krankheiten und medizinische Komplikationen beeinträchtigen ihren Verlauf. An Magersucht sterben etwa 6 Prozent der Kranken, in Zusammenhang mit Bulimie etwa 3 Prozent. Anorexia nervosa hat eine höhere Letalität als alle anderen psychischen Krankheiten in der am meisten betroffenen Altersgruppe.

Trotz großen Forschungsaufwands ist die Ursache von Essstörungen nicht geklärt. Nach heutigem Wissen bedarf es mehrerer Faktoren, damit sie ausbricht. Diese Hypothese schließt biologische, individuelle, familiäre und soziokulturelle Komponenten ein. Der wichtigste biologische Faktor ist nach gegenwärtiger Auffassung eine genetisch vermittelte Disposition, wie sie auch für andere psychische Krankheiten angenommen wird. Genetische Disposition oder Vulnerabilität bedeutet keinesfalls, dass ein Individuum zwangsläufig erkrankt. Erst durch das Zusammentreffen mit anderen Faktoren bricht die Krankheit aus.

Die persönlichen Eigenschaften eines jungen Menschen spielen bei Essstörungen eine große Rolle. An erster Stelle ist ein minderes Selbstwertgefühl zu nennen, verbunden mit extremem Ehrgeiz, einer dominanten Leistungsorientierung und einem beherrschenden Streben nach Anerkennung, Zuwendung und Liebe. Später essgestörte Jugendliche sind meist stark abhängig von der Meinung anderer, in erster Linie natürlich der Eltern und häufig des Vaters. Sie versuchen ständig, sich deren Erwartungen anzupassen. Sie fühlen sich allein verantwortlich für ein harmonisches Familienklima oder das Funktionieren der elterlichen Ehe. Sie bringen oft erstaunliche Leistungen in der Schule und im Sport – und ihr Drang nach Perfektion und Ausdauer kann den Anschein besonderer musischer Begabung erwecken. Aber in der verhängnisvollen Spirale „mehr Leistung – mehr Liebe“ dominiert schließlich ein gesetzmäßiges Fortschreiten der Krankheit.

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie haben ein eigenes, kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtetes, inhaltlich und zeitlich strukturiertes Gruppenkonzept entwickelt. Die Therapie in geschlossenen Gruppen zeigt besonders bei essgestörten Patientinnen und Patienten beachtliche Vorteile gegenüber einer Einzeltherapie. In der äußerst schwierigen und belastenden Situation am Beginn einer Therapiephase, in der es darum geht, von einem Tag auf den anderen wieder „normal“ essen zu müssen, kommt das Zwingende, das von einer konstruktiv arbeitenden Gruppe ausgeht, äußerst positiv zum Tragen. Die Gemeinschaft erleichtert es dem Einzelnen, sich auch auf schwierige und belastende Schritte in der Behandlung einzulassen.

Ein Schwerpunkt ist das tägliche Ernährungstraining. Es geht von der Fremdbestimmung – indem Diätassistentinnen Art und Menge des Essens „verordnen“ – bis zur Eigenbestimmung gegen Ende der Tagklinikphase, in der Patientinnen für alle einschließlich des therapeutischen Teams das Essen zubereiten. Dabei wollen die Therapeuten Eigenverantwortung und Selbstbestimmung fördern – und zwar nicht nur beim Essen, sondern auch bei Planung und Gestaltung des täglichen Lebens. Ein charakteristischer Bestandteil des TCE-Programms ist Wohnen als eine therapeutische Maßnahme. Im Zusammenleben mit annähernd Gleichaltrigen – das Alter ist auf 18 bis 30 Jahre begrenzt – können die Betroffenen ihre krankheitsbedingte Isolation überwinden. Sie lernen, sich abzugrenzen und zu behaupten, aber auch Toleranz zu üben und können zum Beispiel das verhaltenstherapeutische Essprogramm zu viert in einer Wohnung täglich in der Praxis üben.

Bei der Prävention setzen die Max-Planck-Wissenschaftler auf Information, Dialog mit Jugendlichen und Motivation zum Selbstmanagement. Im Unterschied zu anderen Präventionsprogrammen werden die Patientinnen in die Aktivitäten einbezogen. Eine wichtige Säule ist das Projekt zur Prävention von Essstörungen an bayerischen Schulen, gefördert vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit, Ernährung und Verbraucherschutz: Schulklassen besuchen das TCE zu einer Informationsveranstaltung, an der im vergangenen Jahr 25 Klassen aus Gymnasien, Hauptschulen und Fachschulen teilnahmen. Dabei berichten die Patientinnen mit Video und Dias über Essstörungen, über ihre Wege in die Krankheit und über die Behandlung. Umgekehrt unterstützt ein „mobiles Team“ – bestehend aus drei bis vier (ehemaligen) Patientinnen – verschiedene Veranstaltungen in Schulen, gelegentlich in Begleitung einer Therapeutin.

Ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Gesundheitsministerium wurde eine Wanderausstellung zum Thema Essstörungen konzipiert. Den Titel „Is(s) was?!“ hat sich eine der Patientinnen ausgedacht, eine andere das Logo entworfen. 18 meist illustrierte Texttafeln informieren über Essstörungen und ihre verschiedenen Krankheitsformen, ihre Symptome und Komplikationen und geben Hinweise auf therapeutische Möglichkeiten. Ebenso viele Tafeln zeigen Bilder von Patientinnen; sie haben sie während ihrer Therapie gemalt und vermitteln einen Eindruck davon, was es heißt, an einer Essstörung zu leiden.

Wegen der großen Nachfrage hat das Bayerische Gesundheitsministerium eine etwas handlichere und leichter zu transportierende Version der Ausstellung veranlasst; sie kann angefordert werden über die Landeszentrale für Gesundheit in Bayern e.V. (Tel. 089/544073-0, Fax: 089/544073-46, E-Mail: lzg.bayern@t-online.de). Zur Ausstellung gehören eine Informationsschrift für Schüler und eine für Lehrer. Wie bei allen für die Öffentlichkeit bestimmten Publikationen haben sich auch hier Patientinnen beteiligt. Ihre Berichte zeigen, wie sehr Betroffene im Alltag von der Essstörung beherrscht werden und wie viel Mühe es bereitet, davon loszukommen.

Weitere Informationen erhalten Sie von:

Dr. Monika Gerlinghoff
Therapie-Centrum für Essstörungen
Tel. 089/356249-0
Fax: 089/356249-99
E-Mail: info@t-c-e.de

Dr. Herbert Backmund
Therapie-Centrum für Essstörungen
Tel. 089/358047-41
Fax: 089/358047-47
E-Mail: info@t-c-e.de

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Dr. Andreas Trepte Max-Planck-Gesellschaft

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