Erste Teilchenkollisionen mit Rekordenergie am LHC starten morgen

Zusammenbau des NSW. Mehr als 100 ultraplanare Detektorlagen hierfür wurden im PRISMA Detektorlabor konstruiert und hergestellt.
Foto/©: Maximilien Brice, CERN

Nach drei Jahren:

ATLAS Detektor besser denn je – auch dank wichtiger Beiträge aus Mainz.

Wenn morgen (am 5. Juli) am CERN erstmals wieder Protonen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit im Large Hadron Collider (LHC) kollidieren, dann ist das auch ein ganz besonderer Tag für Physikerinnen und Physiker am Mainzer Exzellenzcluster PRISMA⁺: Sie haben in den letzten drei Jahren wichtige Beiträge zum Ausbau des ATLAS Detektors geleistet, um ihn fit zu machen für die Verarbeitung noch größerer Datenmengen in der dritten Laufzeit des größten Teilchenbeschleunigers der Welt. Mit ihm wollen Physikerinnen und Physiker neue und tiefere Einblicke in die Welt der kleinsten Teilchen gewinnen.

Nach mehr als dreijähriger Wartungs- und Umbaupause zirkulierten am 22. April erstmals wieder Protonen im 27 Kilometer langen, kreisförmigen LHC – zunächst mit niedriger Energie. In den vergangenen Wochen wurde der Beschleuniger kontinuierlich hochgefahren, um morgen offiziell das Physikprogramm zu starten: Erstmals werden dann Protonen mit einer Gesamtenergie von 13,6 Billionen Elektronenvolt (13,6 TeV) – also 6,8 TeV pro Protonenstrahl – kollidieren.

Für die damit gestartete dritte Laufzeit (LHC Run 3) hat das LHC Team die Leistungsfähigkeit des Beschleunigers also noch einmal deutlich erhöht und bis an die Grenze ausgereizt. Dabei erreicht der LHC aber nicht nur eine neue Rekordenergie, sondern wird auch sehr viel mehr Teilchenkollisionen als bisher produzieren. Um damit Schritt halten und die größere Zahl an Kollisionen überhaupt verarbeiten und analysieren zu können, wurden parallel auch die vier Detektoren am LHC einem umfassenden Ausbau unterzogen. Einer von ihnen ist der ATLAS Detektor, an dessen Weiterentwicklung Mainzer Physikerinnen und Physiker maßgeblich beteiligt sind.

Superschnelle Elektronik made in Mainz

„Die Mainzer Gruppe hat für das ATLAS Experiment am LHC sehr viel Verantwortung übernommen“, sagt Prof. Dr. Volker Büscher, der sich zusammen mit Prof. Dr. Stefan Tapprogge vor allem auf die sogenannten Trigger-Systeme konzentriert. Sie spielen bei ATLAS eine wichtige Rolle bei der Echtzeitanalyse der Daten. „Unser Detektor ist im Grunde genommen eine riesige Kamera, die viele Millionen Teilchenkollisionen pro Sekunde ‚fotografiert‘“, veranschaulicht Büscher. Es ist aber unmöglich, all diese Bilder zu speichern. Das Trigger-System schaut jedes Bild an und entscheidet in Echtzeit, ob es interessant ist oder nicht, also gespeichert werden soll oder nicht. Wenn der LHC in seiner dritten Laufzeit noch höhere Raten an Teilchenkollisionen produziert bedeutet das auch, dass mehr Daten pro Sekunde anfallen, die das neue Trigger-System verarbeiten muss. „Die große Kunst ist demnach, noch mehr Daten innerhalb weniger Mikrosekunden auszusortieren, ohne dabei interessante Physik zu verlieren“, so Volker Büscher. All das passiert mithilfe vollautomatischer Elektronik – die verwendeten Logik-Bausteine nutzen neueste Entwicklungen und arbeiten an der Grenze des technisch Machbaren. Und das ist kaum vorstellbar: „In jeder Sekunde verarbeitet das Mainzer System mehr als 2 TeraByte Daten pro Sekunde, das entspricht fast 500 DVDs.“

Das Herzstück des Triggers ist ein Mainzer Eigenprodukt – in der zentralen Elektronik-Komponente, die die Bruchstücke aus den Teilchencrashs anschaut, stecken sechs bis sieben Jahre Entwicklungsarbeit. Hinzu kommen weitere Komponenten und Bauteile für das Trigger-System, die Partner aus der ganzen Welt – darunter USA, Schweden und Großbritannien – beisteuern. Aktuell arbeiten vier Wissenschaftler aus Büschers Arbeitsgruppe vor Ort am CERN, um die neue Trigger-Elektronik in Betrieb zu nehmen, zu kalibrieren und das System während der laufenden Experimente zu betreuen.

Myonen noch besser sehen

Ein weiteres Projekt mit Mainzer Beteiligung ist der Ausbau des ATLAS Myon-Spektrometers. Myonen sind schwere „Verwandte“ des Elektrons. Sie sind für die Physik sehr interessant, da sie zum Beispiel beim Zerfall des Higgs Bosons entstehen. „Der Neubau der innersten Myon-Detektoren, dem New Small Wheel (NSW), war eines der größten laufenden Projekte innerhalb des ATLAS-Upgrades: Dabei haben wir die vorherigen Small Wheels aus dem ATLAS Detektor ausgebaut und das New Small Wheel entwickelt“, erläutert Prof. Dr. Matthias Schott. „Von diesen NSWs gibt es zwei, eines auf jeder Seite des Detektors.“

Um die hohen Datenraten während der dritten Laufzeit des LHC verarbeiten zu können, kommen im NSW zwei unterschiedliche Detektortechnologien zum Einsatz: Die einzelnen Elemente bestehen aus jeweils acht Schichten von Micromegas-Detektoren und Small-Strip Thin Gap Chambers (sTGC) mit einer aktiven Gesamtfläche von mehr als 2.500 Quadratmetern. Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Matthias Schott beteiligt sich seit Jahren am NSW Projekt und konstruierte im PRISMA Detektorlabor mehr als 100 ultraplanare Detektorlagen, welche seit dem Jahr 2020 vor Ort sukzessive in das NSW System integriert wurden. Nach dem erfolgreichen Zusammenbau der beiden NSW über mehrere Jahre in einer großen Montage-Halle auf dem CERN Gelände wurde am 15. Juli 2021 das erste NSW zum ATLAS Detektor transportiert und installiert – und dafür 100 Meter tief in die ATLAS Grube abgesenkt. Das zweite NSW folgte am 4. November 2021. „Das war Millimeterarbeit und eine logistische Meisterleistung“, freut sich Matthias Schott.

Neue Physik am Horizont

Im Jahr 2012, in der ersten LHC Laufzeit, hatte ATLAS zeitgleich mit einem anderen LHC-Experiment das Higgs-Boson entdeckt. „Diese wissenschaftliche Sensation öffnete ein neues Fenster, um die großen Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln“, blickt Volker Büscher zurück. In der zweiten Laufzeit zwischen 2015 und 2018 konnten Physikerinnen und Physiker am CERN die Eigenschaften des Higgs Teilchens studieren und das Standardmodell der Teilchenphysik eingehend auf den Prüfstand stellen. Dieses Modell ist einerseits extrem erfolgreich, um den Aufbau der Natur aus wenigen elementaren Bausteinen zu beschreiben, andererseits bleibt es eine Erklärung verschiedener Phänomene schuldig: Woraus besteht Dunkle Materie? Warum gibt es im Universum mehr Materie als Antimaterie? Ziel der dritten LHC Laufzeit ist es, die Eigenschaften des Higgs-Teilchens noch präziser zu vermessen und Antworten auf diese Fragen zu finden – neue Teilchen und Kräfte etwa, die das Rätsel der Dunklen Materie lösen könnten. Für die Mainzer Physikerinnen und Physiker wird es nun richtig spannend.

Der ATLAS Detektor

ATLAS (A Toroidal LHC Apparatus) ist der größte Teilchendetektor, der jemals an einem Beschleuniger gebaut wurde: Er ist etwa so groß wie ein fünfstöckiges Haus. Hauptmerkmal von ATLAS ist das ringförmige Magnetsystem. Es besteht aus acht 25 Meter langen supraleitenden Magnetspulen, die zylinderförmig um das Strahlrohr angeordnet sind. Sie erzeugen ein ringförmiges, sogenanntes toroides Magnetfeld, das in der Kollision entstandene Myonen im äußeren Bereich des Detektors ablenkt. In einem weiteren Magnetfeld im Innern des Detektors werden die Impulse aller in der Kollision entstandenen geladenen Teilchen vermessen. Mehr als 3200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von 177 Instituten aus 38 Ländern arbeiten am ATLAS-Experiment. Aus Deutschland sind 18 Institutionen beteiligt.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Volker Büscher
Experimentelle Teilchen- und Astroteilchenphysik (ETAP)
Institut für Physik und Exzellenzcluster PRISMA+
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
55099 Mainz
Tel. +49 6131 39-20399
E-Mail: buescher@uni-mainz.de

Prof. Dr. Matthias Schott
Experimentelle Teilchen- und Astroteilchenphysik (ETAP)
Institut für Physik und Exzellenzcluster PRISMA+
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
55099 Mainz
Tel. +49 6131 39-25985
E-Mail: schottm@uni-mainz.de

Weitere Informationen:

https://www.uni-mainz.de/presse/aktuell/32_DEU_HTML.php

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Dr. Renée Dillinger-Reiter Kommunikation und Presse
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