Warum ist Eisen kein Material mit Gedächtnis?

Leipziger Max-Planck-Mathematiker haben entschlüsselt, welche Rolle die Kristallsymmetrie bei Phasenübergängen in Eisen sowie in Legierungen mit „Formgedächtnis“ spielt

Warum manche Materialien wie zum Beispiel Eisen irreversibel ihre Form ändern können, während andere nach Erwärmung in ihre alte Form zurückkehren, haben jetzt Mathematiker des Max-Planck Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften in Leipzig gemeinsam mit Kollegen am California Institute of Technology und der Universität Padua durch mathematische Methoden erklären können. Die Forscher weisen nach, dass die Kristallsymmetrie für das unterschiedliche Materialverhalten nach Phasenübergängen verantwortlich ist (Nature, 4. März 2004). Sie konnten zeigen, dass es dafür zwei Kategorien gibt – in der einen ist die Energiebarriere für eine plastische Verformung nicht größer als die Barriere zum Phasenübergang selbst. Diese Transformationen sind deshalb irreversibel, wie bei Eisen. Im anderen Fall ist die Barriere für eine Verformung im allgemeinen viel höher als für den Phasenübergang. Folglich erfolgen Transformationen dieses Typs ohne Plastizität und sind reversibel, wie bei Materialien mit Formgedächtnis.

Phasenübergänge sind ein grundlegender Vorgang in der Natur. Neben Übergängen zwischen einer flüssigen und einer festen Phase, wie zwischen Eis und Wasser, gibt es auch Übergänge in Festkörpern, bei denen sich die Kristallstruktur ändert. Ein wichtiges Beispiel ist Eisen, wo ein Übergang zwischen einem kubisch-raumzentrierten und einem kubisch-flächenzentrierten Kristallgitter stattfindet. Ein anderes Beispiel sind Legierungen „mit Gedächtnis“, die bei niedrigen Temperaturen verformt werden können und bei Erhitzung wieder in ihre Ausgangsform zurückkehren. Beide Beispiele unterscheiden sich in einer Hinsicht fundamental: Reines Eisen kann leicht plastisch verformt werden und ist daher weich im Vergleich zu den Formgedächtnislegierungen.

Eisen ist seit früher Menschheitsgeschichte einer der wichtigsten Werkstoffe. Die Veredelung des eigentlich weichen Eisens zu hartem Stahl ist von großer technologischer Relevanz. Als erster entdeckte der deutsche Metallurgist Adolf Martens (1850-1914) in Stahl und Eisen charakteristische, feinskalige Strukturen, die mit bloßem Auge unsichtbar sind. Diese Strukturen treten bei Phasenübergängen auf. Er beobachtete, dass harte Stähle eine regelmäßige, geordnete Mikrostruktur aufweisen, während Eisen eine ungeordnete und viel komplexere Struktur besitzt. Auch heute noch ist die Frage, welche Legierungselemente und welche Prozessführung man bei der Stahlherstellung wählen soll, um ganz bestimmte Mikrostrukturen zu erzeugen, ein zentrales Thema in der Stahlforschung. Diese Strukturen entstehen durch Phasenübergänge; Martens zu Ehren nennt man diese Strukturen sowie die entsprechenden Phasenübergänge martensitisch.

Ein anderes Beispiel für martensitische Phasenumwandlungen findet sich in Formgedächtnislegierungen. Diese Materialien, etwa Nitinol, können bei niedriger Temperatur leicht verformt werden und gehen bei Erhitzen in ihre ursprüngliche Form zurück, „erinnern“ sich also an ihren Ausgangszustand. Diese faszinierenden Materialien werden unter anderem in der Medizintechnik verwendet. Ein Beispiel sind so genannte stents zur Weitung der Herzgefäße. Formgedächtnismaterialien sind aber auch für ingenieurtechnische Anwendungen von Bedeutung, etwa als Kandidaten für künstliche Muskeln in einer Roboterhand. Die Mikrostrukturen in Formgedächtnismaterialien ähneln denen von Stahl: Anders als in Eisen ist ihre Struktur weitgehend regelmäßig gestreift.

Sowohl in Eisen als auch in Formgedächtnislegierungen treten also martensitische Phasenumwandlungen auf, und beide Materialklassen sind durch eine ähnliche kristallographische Struktur gekennzeichnet. Doch warum ist dann die Mikrostruktur in Eisen so viel schwächer ausgeprägt als in Formgedächtnislegierungen? Warum zeigt Eisen leicht plastisches Verhalten, aber keinen Formgedächtniseffekt? Warum sind umgekehrt die Umwandlungen in Formgedächtnislegierungen, anders als in Eisen, reversibel?

Dem Leipziger Mathematiker-Team ist es nun mit mathematischen Methoden gelungen, eine einfache Erklärung für diese Fragen finden. Ihre Grundidee läst sich leicht an einem Spielzeugmodell nachvollziehen, wenn man in einem Gedankenexperiment von einer Phase zu einer anderen und wieder zurück reist. Man startet sowohl für Eisen als auch für ein Formgedächtnismaterial bei hohen Temperaturen; das Atomgitter sei jeweils quadratisch, die dritte Raumdimension wird hier der Einfachheit halber ignoriert. Für das Formgedächtnismaterial ist also das blaue Gitter in Fig. 1 der Ausgangspunkt. In solchen Legierungen tritt eine Symmetriereduktion ein. Angenommen, dass Gitter in dem „Material mit Gedächtnis“ wandelt sich bei Abkühlung zu einem rhombischen Gitter (magentafarbenes und rotes Gitter in Fig. 1). Diese Wahlmöglichkeit zwischen mehreren rhombischen Gittern führt zur Mikrostruktur. Erhitzt man das Formgedächtnismaterial in diesem Gedankenexperiment, wandelt sich das rhombische wieder in das ursprüngliche quadratische Gitter (blau) um. Daher ist diese Umwandlung reversibel. Führt man diese Überlegungen etwas genauer aus, kann man damit den Formgedächtniseffekt erklären.

Was ist also bei Eisen anders? Auch hier startet man bei hohen Temperaturen mit einem quadratischen Gitter (Fig. 2, blaues Gitter). Bei Abkühlung wandelt sich das quadratische in ein hexagonales Gitter um (rotes Gitter). Auch hier gibt es eine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen hexagonalen Gittern. Da die Überlegung aber für alle diese Gitter gleich verläuft, kann man sich auf das rote Gitter konzentrieren. Dieses besitzt eine andere, neue Symmetrie. Die dick markierte Zelle ist wegen dieser Symmetrie äquivalent zu der gestrichelten. Wird das Material wieder erhitzt, kann es daher entweder zu dem Ausgangszustand zurückkehren (blaues Quadrat in Fig. 2) oder zu einem neuen, ebenfalls quadratischen Zustand wechseln (grünes Quadrat in Fig 2). Entscheidend ist, dass diese beiden Zustände durch eine Scherung auseinander hervorgehen, wie in Fig. 2 an einer Zelle angedeutet ist. Anders formuliert: Durchläuft das zweidimensionale Modell für Eisen einen Zyklus von zwei Phasenübergängen (quadratisch-hexagonal und retour), so kann es auf dieser Reise eine plastische Verformung mitnehmen. Da diese Reise aber nicht unbedingt zum Ausgangspunkt zurückführt, ist diese Transformation irreversibel. Dabei spielt die Symmetrie eine entscheidende Rolle: Nur weil die hexagonale Phase in dem Eisenmodell eine zusätzliche Symmetrie einbringt, also anders als die rhombische Phase im Formgedächtnismodell, kann man bei Eisen hier zwischen verschiedenen Reisewegen wählen.

Diese einfachen Überlegungen können mit mathematischen Methoden, die aus der Gruppentheorie stammen, auf eine dreidimensionale Situation übertragen werden. Auf diese Weise kann man zeigen, warum in einem Eisenkristall wegen der Vielfalt der möglichen Umwandlungspfade in der Tat beliebig große Verformungen erzeugt werden können. Dies führt zu plastischer Deformation und damit zu Irreversibilität und inkohärenten Mikrostrukturen. Hingegen passiert das in Formgedächtnismaterialien nicht.

Abbildung 3 zeigt die makroskopischen Auswirkungen dieser Überlegungen für Eisen. Im Prinzip kann jede Kristallzelle zwischen den verschiedenen Pfaden (blau-rot-blau bzw. blau-rot-grün in Fig. 2) wählen. Allerdings ist diese Wahlfreiheit durch das Verhalten der Nachbarzelle eingeschränkt, was typischerweise zu einem streifigen Muster führt (siehe Abb. 3 rechts). Im allgemeinen wird in einem Eisenwerkstoff, der einen Phasenzyklus durchlaufen hat, ein Teil der Kristallzellen in den Ausgangszustand zurückkehren, während ein anderer Teil in einen im Vergleich zum Ausgangszustand deformierten Zustand übergeht. Dies führt zu makroskopischen Verformungen. Die geschilderte Bedeutung der Symmetrie der Phasen für die Reversibilität martensitischer Umwandlungen hat somit auch Auswirkungen auf das makroskopische Verhalten eines solchen Materials.

Darüber hinaus kann diese mathematische Erkenntnis über Formgedächtnismaterialen und Eisen hinaus Anwendung finden. Martensitische Phasenübergänge finden nämlich auch in Keramiken und Polymeren statt, aber auch in biologischen Systemen wie dem T4 Bakteriophagen, einem Virus.

Das Projekt wurde unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das italienische MUIR (CoFin Modelli Matematici per i Materiali), das 4. Rahmenprogramm der Europäischen Union, das US Air Force Office of Scientific Research und das US Office of Naval Research.

Weitere Informationen erhalten Sie von:

Dr. Sergio Conti
Max-Planck-Institut für Mathematik
in den Naturwissenschaften, Leipzig
Tel.: 0341 9959-547, Fax: -658
E-Mail: conti@mis.mpg.de

Dr. Johannes Zimmer
Max-Planck-Institut für Mathematik
in den Naturwissenschaften, Leipzig
Tel.: 0341 9959-545, Fax: -658
E-Mail: www.mis.mpg.de/~zimmer

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Dr. Sergio Conti Max-Planck-Gesellschaft

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