Schaltstelle statt Durchgangsstation: Motorische Steuerung im Hirnstamm

Das zeigen Wissenschaftler der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen und des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung (HIH) in einer aktuellen Studie, die in der Zeitschrift Journal of Neuroscience erschienen ist. Der Hirnstamm wird vor allem mit basalen, sehr einfachen Funktionen in Verbindung gebracht. Bisher ging man davon aus, dass der Hirnstamm die vom Großhirn kommenden Bewegungsbefehle lediglich weiterleitet. Die jetzt erhobenen Daten zeigen aber, dass es sich um eine wichtige Schaltstation handeln könnte.

Eigentlich sind die Colliculi Superiores (obere Hügelchen) der sogenannten Vierhügelplatte eine der am besten untersuchten Strukturen des Gehirns von Primaten, zu denen auch die Menschen gehören. Bisher ist man davon ausgegangen, dass diese Region des Gehirns einfachste visuelle Eindrücke verarbeitet und schnelle Augenbewegungen steuert.
„Wenn sie im Augenwinkel etwas bemerken und mit einem schnellen Reflex hinschauen dann waren ihre Colliculi Superiores am Werk“ so Dr. Marc Himmelbach, Wissenschaftler am Hertie Institut für Hirnforschung und der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen. „Genau gleich funktionieren die Colliculi auch bei vielen Tieren. Für einige Arten ist es sogar der einzige Teil des Gehirns, der Gesehenes verarbeitet.“

Bis vor kurzem dachte man, dass damit die Möglichkeiten dieser Struktur erschöpft sind und alle komplexeren Aufgaben ausschließlich vom Großhirn bestimmt und gesteuert werden. In den letzten Jahren haben jedoch einige Arbeiten über Affen gezeigt, dass mehr dahinter sein könnte, wenn es um diesen Bereich des Hirnstamms geht. So hat eine Arbeitsgruppe in Bochum in den Colliculi von Affen einzelne Neuronen gefunden, die nicht nur bei Augenbewegungen, sondern auch bei Armbewegungen aktiv waren. Eine ungewöhnliche Entdeckung, die zum einen von vielen Forschern angezweifelt wurde, zum anderen nicht einfach auf das bereits etwas anders organisierte Gehirn des Menschen übertragen werden konnte.
Wissenschaftler in Tübingen haben jetzt mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie diese Beobachtungen beim Menschen bestätigt. Funktionelle Messungen so tief im Gehirn sind allerdings mit zahlreichen Problemen behaftet. „Zwei Jahre lang haben wir Vormessungen durchgeführt und unsere Methoden perfektioniert, ohne zu wissen ob es am Ende klappen wird“, so Walter Linzenbold über sein Promotionsprojekt. Am Ende war es dann aber klar: wenn sie Arme und Hände bewegten war bei den menschlichen Probanden genau an den Stellen eine erhöhte Hirnaktivität zu sehen, an denen bei Affen die Neuronen verstärkt feuerten.

Projektleiter Dr. Marc Himmelbach sieht darin vor allem auch ein wichtiges Beispiel für die notwendige Interaktion von human- und tierexperimentellen Methoden in den Neurowissenschaften: „Ohne die Befunde aus den Bochumer Experimenten hätten wir überhaupt nicht gewusst, wo wir eigentlich hinschauen müssen. Wir hätten jahrelang Unmengen von Daten erheben können, ohne irgendetwas zu finden.“
Die Ergebnisse liefern einen wichtigen Baustein für das Verständnis des sensomotorischen Systems des Menschen. „Eigentlich gilt die Verknüpfung von Sensorik und Motorik, von Wahrnehmen und Handeln, inzwischen schon fast als langweiliges und nicht mehr ganz aktuelles Thema in der Hirnforschung. Aber hier sieht man, dass es noch viel unbekanntes Terrain gibt.“ erläutert Marc Himmelbach und betont: „Es wäre vermessen, diese Beobachtungen zum jetzigen Zeitpunkt mit technischen Anwendungen oder der Heilung von Krankheiten zu verbinden. Bedeutend sind diese Beobachtungen, weil sie einerseits bisher geltende Modelle der Bewegungssteuerung infrage stellen und damit einen wichtigen und langfristigen Einfluss auf diesen Forschungsbereich haben könnten. Andererseits zeigen sie, dass Messungen der Hirnfunktion am Hirnstamm des Menschen mit der Kernspintomographie überhaupt zuverlässig möglich sind.“

Originaltitel der Publikation

Signals from the deep: reach-related activity in the human superior colliculus.
Autoren: Walter Linzenbold, Marc Himmelbach
Journalof Neuroscience 2012 Oct 3;32(40):13881-8
doi: 10.1523/JNEUROSCI.0619-12.2012.

Medienkontakt

Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH), Universitätsklinikum Tübingen
Zentrum für Neurologie, Sektion Neuropsychologie
Dr. Marc Himmelbach
Tel. 0 70 71/29-8 76 00
E-Mail: marc.himmelbach@uni-tuebingen.de

Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Leiterin Kommunikation
Silke Jakobi
Telefon: 07071-28 8 88 00
Mail: silke.jakobi@medizin.uni-tuebingen.de
Universitätsklinikum Tübingen
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
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Telefon: 07071-29 80 112
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