Schlüsseltechnik für die Energiewende

Mehr Energie fürs eigene Haus: Dank des Caterva-Systems kann Andreas Seubert eine Menge Strom aus seiner PV-Anlage selbst nutzen. Wie viel genau und was er ins Netz einspeist, zeigt ihm eine App.

Es ist nur ein 1,8 Meter hoher und gut einen Meter breiter Stahlschrank im Keller von Andreas Seuberts Einfamilienhaus auf dem Land, mitten in Franken: übereinandergestapelte Lithium-Ionen-Batterien auf der einen Seite, Wechselrichter, ein Smart Meter, elektronische Schaltungen und eine nur zigarettenschachtelgroße Platine mit Prozessor und Mobilfunkeinheit auf der anderen Seite. Zusammen mit Seuberts Photovoltaik-Anlage auf dem Dach ergibt das ein ganz anfassbares Beispiel dessen, was Fachleute meinen, wenn sie von dezentraler Energieversorgung sprechen.

Pilotversuch mit PV-Besitzern

Wenn die deutsche Energiewende glückt, können Energiespeichersysteme (ESS) wie das im Keller von Seubert künftig ein wichtiger Bestandteil eines nachhaltigen Energiesystems sein. Denn solche Systeme werden dann dazu beitragen, dass die Stabilität der Netzfrequenz erhalten bleibt und dass Stromdefizite, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht bläst, ausgeglichen werden. Bisher müssen in diesen Fällen konventionelle Kraftwerke – wie etwa schnell hochfahrbare Gaskraftwerke – diese Aufgabe bewältigen.

Wie es auch anders funktionieren kann, zeigt das junge Unternehmen Caterva: „Caterva heißt auf Lateinisch ‚Schwarm’“, erklärt Geschäftsführer Markus Brehler. Das Prinzip ist einfach: Der Strom aus privaten Photovoltaik-Anlagen wie der von Seubert und anderen Solaranlagenbesitzern wird in den Li-thium-Ionen-Batterien gespeichert. Sie haben pro Schrank eine Gesamtleistung von 20 Kilowatt und eine Kapazität von 21 Kilowattstunden (kWh). Über das Stromnetz sind sie zu einem Schwarm, zu einem virtuellen Großspeicher mit mehr als einem Megawatt Leistung, verbunden, der über Mobilfunk koordiniert wird. Mittels der Elektronik in der rechten Schrankseite können die Batterien der Caterva-Teilnehmer von einer Steuerzentrale angezapft oder aufgefüllt werden. Wenn also im Netz Bedarf nach zusätzlichem Strom besteht, um Schwankungen auszugleichen, „saugt die Zentrale Strom aus dem Batterieschwarm“, erklärt Seubert.

Dieses innovative Konzept entstand ursprünglich bei Siemens Novel Businesses (SNB) und wurde dann in verschiedenen Abteilungen von Siemens Corporate Technology weiterentwickelt – bis hin zu einer Basisversion der Schwarm-Software. Die SNB-Experten halfen auch bei der Gründung von Caterva, denn genau dies ist ihre Aufgabe: junge Unternehmen zu gründen, wenn ein vielversprechendes Geschäft innerhalb der Siemens AG nicht so gut, so schnell und so flexibel weiterentwickelt werden kann wie in einer externen Firma.

Caterva-Geschäftsführer Brehler hatte bereits langjährige Erfahrung mit einer weiteren Siemens-Ausgründung gesammelt, der EnOcean GmbH. Auch bei der künftigen Geschäftstätigkeit von Caterva unterstützt Siemens auf vielfältige Weise: So baut Siemens derzeit die Schränke mit der gesamten Hardware zusammen und ist zugleich Minderheitsgesellschafter von Caterva.

Gemeinsam mit dem Energieversorgungsunternehmen N-Ergie hat Caterva vor einigen Monaten einen Pilotversuch gestartet, an dem etwa 65 private PV-Anlagenbesitzer teilnehmen. Seit Juli 2015 erzeugen die Teilnehmer des Projekts nun mehr als ein Megawatt Leistung. Vernetzt über das Energie-Managementsystem von Caterva können sie so gemeinsam als virtueller Großspeicher zur Primärregelleistung und damit zur Stabilisierung des Stromnetzes beitragen.

Die Anlagenbesitzer können dank der Batterien mehr von ihrem eigenen Strom verbrauchen als ohne diese Speicherlösung: im Schnitt zwischen 60 und 80 statt bisher nur 30 Prozent. Andreas Seubert ist der erste Teilnehmer, der in das Projekt eingestiegen ist. Als er mit seiner Familie im Herbst 2013 sein neues Heim in der fränkischen Kleinstadt Dettelbach bezog, war es für ihn selbstverständlich, eine Solaranlage auf dem Dach zu installieren.

Dabei war es dem Ingenieur, der bei Siemens als Branchenmanager für Verpackungsmaschinen tätig ist, ein Dorn im Auge, dass er relativ wenig des selbst erzeugten Stroms selbst nutzen konnte. Zwar wird der nicht benötigte Strom, der an sehr sonnigen Tagen im Überfluss produziert wird, ins Netz eingespeist und vergütet, doch Seuberts Ziel ist ein anderes: „Langfristig möchte ich unabhängig von Energielieferanten werden.“

Selbst Batterien zu kaufen, um seinen Solarstrom speichern zu können, erschien ihm unrentabel: „Fachleute rieten mir ab, da sie die leistungsfähigen Batterien für den privaten Haushalt noch zu teuer finden.“ Zufällig erfuhr er dann vom Caterva-Projekt. „Meine Kollegen bei Siemens, die an Technologien für Smart Grids arbeiten, erzählten mir von der Möglichkeit, mit Batterien und intelligenter Technik Teil eines Energieversorgungssystems zu werden“, erinnert sich Seubert. Der 52-Jährige meldete sich als Teilnehmer des Pilotprojekts.

Menschen wie Andreas Seubert sind die Pioniere, die Caterva braucht, um die Leistungsfähigkeit des Konzepts zu beweisen. Dasselbe gilt für N-Ergie, den fränkischen Energieversorger, der das Pilotprojekt mitträgt. „Die Umsetzung der Energiewende beschäftigt uns massiv“, erklärt Ingo Sigert, Referent der strategischen Unternehmensentwicklung und Projektleiter. Nur wer innovative Lösungen anbieten kann, wird sich als Energieversorgungsunternehmen auf Dauer behaupten können, ist Sigert überzeugt. Erst kürzlich hat N-Ergie einen 70 Meter hohen HeißwasserWärmespeicher in Betrieb genommen, der zu den höchsten in Europa gehört und der an eine Gas- und-Dampf-Anlage mit integriertem Biomasse-Heizwerk angeschlossen ist.

Stark positive Resonanz

Die Aufgabenteilung sieht so aus: N-Ergie spricht gezielt Kunden in ihrem Netzgebiet an, die eine relativ neue Solaranlage installiert haben. „Die Resonanz ist sehr positiv: Wir haben in kürzester Zeit genügend Interessenten gefunden“, berichtet Sigert. Caterva ist der Vertragspartner der Teilnehmer, liefert das System im Stahlschrank und schließt es an. „Dafür bezahlen die Teilnehmer eine einmalige Mietzahlung, die jetzt, in der Pilotphase, bei rund 4.000 Euro liegt“, erklärt Brehler. Rechnen tut sich dies für den Haushalt über die Differenz zwischen den Kosten, die der Nutzer für Strom aus dem Netz zahlen müsste – in Deutschland sind das derzeit etwa 27 Eurocent pro kWh – und dem, was der eigenverbrauchte Strom kostet. Diese Einsparung liegt heute zwischen 10 und 15 ct/kWh. Die Einnahmen, die Caterva aus der Vermarktung der Primärregelleistung an den Übertragungsnetzbetreiber erzielt, gestatten die günstigen Mietkonditionen.

N-Ergie stellt die übergeordnete Infrastruktur zur Verfügung. Ihre Leitwarte steuert künftig neben den Kraftwerken des Unternehmens auch den Schwarm des Caterva-Projekts. „Eine der wesentlichen Aufgaben ist die Koordination des Schwarms“, erklärt Brehler. Über Mobilfunk kommen die Daten aus den ESS in den Kellern der Teilnehmer in die Zentrale. So kennt man jederzeit den tatsächlichen Ladezustand der Batterien. Gleichzeitig wissen die ESS, wann die Netzfrequenz schwankt, das heißt, wann es ein Ungleichgewicht zwischen Stromangebot und -nachfrage gibt. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn die dezentralen Stromerzeuger zu viel Leistung erbringen oder auch konventionelle Erzeuger wie Kraftwerke ganz ausfallen. Um die Differenz zwischen Ein- und Ausspeisung auszugleichen und die Netzfrequenz bei 50 Hertz zu halten, muss dann umgehend Strom zu- oder abgeführt werden. Dies übernehmen klassischerweise konventionelle Kraftwerke wie beispielsweise Gaskraftwerke.

Seit 2011 können auch dezentrale Energieerzeuger ab einem Megawatt Leistung Regelleistung einspeisen und sollen diese Aufgabe laut der „Roadmap Systemdienstleistungen 2030“ der Deutschen Energie-Agentur (dena) auch immer stärker wahrnehmen. Doch dafür müssen neue Technologien eingesetzt und erprobt werden, eben wie bei Caterva. „Wir müssen heute etwas tun, damit es in fünf Jahren Lösungen gibt, die das Netz stabil halten“, sagt Caterva-Geschäftsführer Brehler.

Die Zentrale steuert den Schwarm

Die Teilnehmer des Pilotprojekts profitieren also nicht nur, indem sie mehr Solarstrom selbst nutzen, sondern sie tragen auch zum Gelingen der Energiewende bei. Ihr ESS wird ergänzt von einer Caterva-App, die neben dem Stromverbrauch im Haushalt stets anzeigt, wie hoch die Leistung der PV-Anlage ist, wie viel Strom in der hauseigenen Batterie gespeichert ist und wie viel ins Netz eingespeist wird. Die Kontrolle über ihre eigene Batterie haben die Projektteilnehmer allerdings nicht. In der Leitzentrale von N-Ergie laufen alle Daten zusammen, „selbstverständlich hoch verschlüsselt und anonymisiert“, erklärt Sigert, „und die Zentrale steuert, wann und wie viel Strom aus den Schwarm-Batterien für Regelleistung bereitgestellt wird“. Dabei gelten genau definierte Regeln: So wird der Leistungsbedarf im Haus parallel zur Leistungsbereitstellung der Regelleistung erfüllt.

Das jetzt gestartete Pilotprojekt soll erst der Anfang einer weitreichenden Entwicklung sein. N-Ergie denkt auch darüber nach, Besitzer von PV-Anlagen in ganz Deutschland einzubinden, „denn je größer der Schwarm ist, desto größer ist der Beitrag zur Netzstabilität“, erklärt Projektleiter Sigert. Deutschland ist für die Umsetzung des Konzepts „Mit der Sonne im Netz“, was der Slogan von Caterva ist, besonders gut geeignet. Mit rund 1,1 Millionen privaten PV-Anlagenbesitzern hält es weltweit mit großem Abstand den Rekord. Die Energiewende bietet vielfältige Chancen für neue Geschäftsideen. So sieht es auch Markus Brehler: „Das Bayerische Wirtschaftsministeriums fördert das Projekt im Rahmen des Programms 'innovative Energietechnologien und Energieeffizienz'“, sagt er.

„Wir suchen jetzt Infrastrukturinvestoren, die Interesse an Geschäftsmodellen für die Energiekonzepte der Zukunft haben.““,

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Andreas Seubert ist erst mal zufrieden, dass das System in seinem Keller jetzt zuverlässig läuft. „Eines Tages hoffe ich, auch bei einem großflächigen Stromausfall genug Energie für meinen Haushalt zur Verfügung zu haben“, sagt er. „Oder zumindest genug, damit ich ein wichtiges Fußballspiel trotzdem am Fernseher verfolgen kann.“ Das sollte bereits jetzt möglich sein.

Neue Geschäftsmodelle testen

Die Aufgabe von Siemens Novel Businesses, das seit 2012 zur Abteilung Innovative Ventures bei Siemens Corporate Technology gehört, ist es, gezielt Start-up-Unternehmen in Geschäftsfeldern zu gründen, die für Siemens interessant werden können. Auf diese Weise lassen sich innovative Geschäftsmodelle flexibel und schnell testen. Diese jungen Unternehmen werden unabhängig von Siemens betrieben und von erfahrenen Gründern geleitet. Siemens Novel Businesses finanziert die Ausgründungen ähnlich wie ein Venture-Capital-Investor. Zugleich kann Siemens später über eine Integration dieser Firmen in die reguläre Organisation des Konzerns entscheiden, um den weiteren Ausbau der Geschäftstätigkeit im Rahmen der Siemens-Organisation voranzutreiben.

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