Menschliche Hörzellen aus dem Reagenzglas

Menschliche Cochlea nach zehn Wochen Entwicklungszeit, immungefärbt zur Identifizierung von Haarzellenvorläufern: «CD271» in gelb, «p27» in grün. © Marta Roccio und Michael Perny, Inner Ear Research Laboratory, Department for BioMedical Research (DBMR), Universität Bern

Rund 5% der Weltbevölkerung leidet an Schwerhörigkeit. Sie hat weitreichende Auswirkungen für die Betroffenen und die Gesellschaft als Ganzes. Allein der Hörverlust bei Erwachsenen zählt zu den fünf grössten Krankheitslasten in Europa und verursacht enorme sozioökonomische Kosten. Die Hörfähigkeit kann zwar mit Hörgeräten oder Implantaten verbessert werden, eine wirksame Ursachenbehandlung bei Hörbeeinträchtigungen gibt es aber bis heute nicht.

Eine Gruppe von Forschenden des Department of Biomedical Research (DBMR) der Universität Bern und der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten (HNO), Kopf- und Halschirurgie des Berner Inselspitals hat nun in Zusammenarbeit mit weiteren Beteiligten des internationalen Konsortiums «OTOSTEM» einen grossen Schritt in Richtung Ursachentherapie von Schwerhörigkeit gemacht.

Erstmals gelang es ihnen, die Entwicklung von menschlichen «Haarzellen», die im Innenohr für die Geräuschrezeption zuständig sind, in-vitro (im Labor) nachzuahmen. Damit wird es in Zukunft möglich sein, neue Behandlungsmethoden für Hörbeeinträchtigung direkt an menschlichen Zellen zu erproben. Die Studie wurde im Fachmagazin «Nature Communications» publiziert.

Der Weg zum fertigen Geräusch

Unsere Fähigkeit zu hören, hängt von der aufeinander abgestimmten Aktivität von zwei spezialisierten Sinneszelltypen im Innenohr, genauer gesagt in der Hörschnecke (Cochlea), ab. Die sogenannten Haarzellen fungieren als Schallrezeptoren, indem sie auf Vibrationen reagieren, die durch Geräusche verursacht werden.

Die Haarzellen setzen chemische Botenstoffe frei, die wiederum die sogenannten Spiralganglienzellen stimulieren. Diese Zellen bilden den Hörnerv, der die Informationen an das Gehirn weiterleitet, wo diese als Geräusch wahrgenommen werden. Diese Zelltypen sind in einem komplexen Mosaik organisiert. Das ermöglicht uns, verschiedene Schallintensitäten und Frequenzen mit beispielloser Geschwindigkeit und Genauigkeit wahrzunehmen.

Hörzellen wachsen nicht nach

Haarzellen und Spiralganglienzellen entstehen sehr früh in der fetalen Entwicklung, etwa in der zehnten bis elften Schwangerschaftswoche. Bereits in diesem Stadium erreichen sie ihre endgültige Zahl. «Wir werden mit rund 15'000 Haarzellen und 30'000 Spiralganglienzellen geboren, von da an nimmt ihre Zahl nur noch ab», so Marta Roccio.

Laute Geräusche, Infektionen, Alterungsprozesse oder auch die Belastung durch Giftstoffe wie etwa verschiedene Antibiotika setzen den Sinneszellen fortan zu. Da die Zellen bisher nicht ersetzt werden können, führt ihr Verlust zu einer dauerhaften Hörschädigung.

Cochlea-Haarzellen aus dem Labor

«Wir konnten in unserer Studie zeigen, dass vieles, was wir bereits aus dem Tiermodell kennen, auch für die menschliche fetale Entwicklung der Sinneszellen zutrifft», sagt Marta Roccio. Dank dieser Erkenntnis konnten die Forschenden eine kleine Population von Stammzellen-ähnlichen «Vorläuferzellen» identifizieren, die nach mehrwöchiger struktureller und funktioneller Differenzierung schliesslich die Cochlea-Haarzellen bilden.

«Wir haben eine Methodik entwickelt, um diese Vorläufer aus der menschlichen fötalen Cochlea zu isolieren und im Labor schliesslich die Bedingungen für die in-vitro-Generierung funktioneller Haarzellen optimiert», erklärt Roccio. Dazu verwendeten die Forschenden dreidimensionale Kulturen, auch bekannt als Organoide.

«Die Ergebnisse der nun publizierten Studie stellen eine einzigartige Vorlage für zukünftige Forschungsprojekte auf dem Gebiet dar, um neue Strategien zur Bekämpfung von neurosensorischem Hörverlust zu entwickeln», erklärt der Mitautor Pascal Senn.

Denn die Ergebnisse würden einen «Bauplan» liefern für die Erzeugung von Cochlea-Haarzellen aus anderen, häufigeren Zellquellen, wie beispielsweise pluripotenten Stammzellen, so Senn weiter. Dies werde den Weg für Tests ebnen, die auf patienteneigenen Zelltypen basieren und eine individuellere Behandlung ermöglichen.

PD Dr. Marta Roccio (Englisch/Italienisch)
Department for BioMedical Research (DBMR), Universität Bern
E-Mail: marta.roccio@dbmr.unibe.ch

Roccio, M., Perny, M., Ealy, M., Widmer, H. R., Heller, S., Senn, P., 2018. Molecular characterization and prospective isolation of human fetal cochlear hair cell progenitors, Nature Communications, DOI: 10.1038/s41467-018-06334-7.

http://www.unibe.ch/aktuell/medien/media_relations/medienmitteilungen/2018/medie…

Media Contact

Nathalie Matter Universität Bern

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Diamantstaub leuchtet hell in Magnetresonanztomographie

Mögliche Alternative zum weit verbreiteten Kontrastmittel Gadolinium. Eine unerwartete Entdeckung machte eine Wissenschaftlerin des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme in Stuttgart: Nanometerkleine Diamantpartikel, die eigentlich für einen ganz anderen Zweck bestimmt…

Neue Spule für 7-Tesla MRT | Kopf und Hals gleichzeitig darstellen

Die Magnetresonanztomographie (MRT) ermöglicht detaillierte Einblicke in den Körper. Vor allem die Ultrahochfeld-Bildgebung mit Magnetfeldstärken von 7 Tesla und höher macht feinste anatomische Strukturen und funktionelle Prozesse sichtbar. Doch alleine…

Hybrid-Energiespeichersystem für moderne Energienetze

Projekt HyFlow: Leistungsfähiges, nachhaltiges und kostengünstiges Hybrid-Energiespeichersystem für moderne Energienetze. In drei Jahren Forschungsarbeit hat das Konsortium des EU-Projekts HyFlow ein extrem leistungsfähiges, nachhaltiges und kostengünstiges Hybrid-Energiespeichersystem entwickelt, das einen…

Partner & Förderer