Anomale Kristalle: ein Schlüssel zu atomaren Strukturen von Schmelzen im Erdinneren
Siliciumoxide mit der Summenformel SiO2 kommen in einer Vielzahl von Modifikationen vor. Quarz zählt zu dieser großen Familie.
Für die Kristallstruktur des Quarzes und der anderen Siliciumdioxide, die in der Erdkruste enthalten sind, ist ein Gerüst aus SiO4-Tetraedern charakteristisch, die sich jeweils aus vier Sauerstoff-Atomen und einem Silicium-Atom in der Mitte zusammensetzen.
Im Detail ist die Struktur der Siliciumdioxid-Kristalle allerdings von den Druck- und Temperaturverhältnissen in der Umgebung abhängig. Sobald Quarz – das zweithäufigste Mineral der Erdkruste – von der Erdoberfläche in eine Tiefe von rund 70 Kilometern gelangt, verwandelt es sich in Coesit.
Dieses Mineral ist überraschend wandlungsfähig. So bilden sich bei Drücken bis zu 30 Gigapascal die Coesit-Phasen I, II und III heraus, ohne dass sich die SiO4-Tetraeder – die Bestandteile ihres Gerüsts – ändern.
Erstmals möglich: Berechnung atomarer Strukturen von Silikatschmelzen
Nun aber haben die Bayreuther Wissenschaftler, in Kooperation mit dem Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY in Hamburg, die weiteren Coesit-Phasen IV und V entdeckt. Deren Gerüst setzt sich nicht mehr einheitlich aus SiO4-Tetraedern zusammen, vielmehr sind auch SiO5-Pentaeder und SiO6-Oktaeder darin enthalten.
Diese anomalen Strukturen öffnen eine Tür für Untersuchungen des tiefen Erdinneren, wie sie bisher nie möglich waren. Unter extrem hohen Drücken und Temperaturen können im unteren Erdmantel Silikatschmelzen entstehen, deren atomare Strukturen bis heute unbekannt sind. Die Schmelzen liefern im Unterschied zu festen Kristallstrukturen keine eindeutigen Röntgenbeugungsmuster.
Um dennoch Materialstrukturen in diesen Schmelzen identifizieren zu können, bleibt nur ein Umweg: Jede Kristallstruktur besitzt eine Kenngröße, die sogenannte Paarverteilungsfunktion. Sie zeigt an, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sich innerhalb eines Kristalls in einer definierten Entfernung von einem Atom ein weiteres Atom befindet.
Falls eine feste Kristallstruktur eine Paarverteilungsfunktion besitzt, die der Paarverteilungsfunktion von geschmolzenen Silikaten ähnelt, ist dies ein wichtiges Indiz für den atomaren Aufbau der Schmelze. Bisher war allerdings für Silikatschmelzen und Silikatglas keine derartige Kristallstruktur bekannt.
Den Bayreuther Wissenschaftlern ist es jedoch gelungen, die Paarverteilungsfunktionen der Coesit-Phasen IV und V zu identifizieren. Dabei haben sie festgestellt: Die ermittelten Werte kommen den bekannten Paarverteilungsfunktionen von komprimierten Silikaten und geschmolzenem Basalt überraschend nahe.
Mehr noch: Bei Drücken von mehr als 45 Gigapascal besitzen die beiden Coesit-Phasen die gleiche Dichte wie Silikatglas, das durch Schmelzprozesse entsteht.
„Diese Übereinstimmungen sind ein starkes Indiz dafür, dass die äußerst ungewöhnlichen Strukturelemente von Coesit IV und V in Silikatschmelzen im tiefen Erdinneren vorkommen. Diese Schmelzen haben, wie wir heute glauben, bei der Entstehung der Erde – insbesondere der Differenzierung von Erdkern und Erdmantel – eine zentrale Rolle gespielt. Für ein genaueres Verständnis dieses Prozesses liefern uns die ungewöhnlichen Coesit-Phasen wertvolle Anhaltspunkte“, erklärt Prof. Dr. Leonid Dubrovinsky, der Projektleiter der neuen Studie.
Genauere Interpretationen seismischer Daten
Die Forscher vermuten, dass die strukturellen Anomalien – vor allem die SiO5-Pentaeder und SiO6-Oktaeder, die gemeinsame Flächen haben – eine geringere Materialdichte in den Schmelzen verursachen.
„Diese ungewöhnlichen Bausteine könnten dazu führen, dass sich Schallwellen in geschmolzenen Bereichen des Erdinneren deutlich langsamer fortsetzen. Insofern liefern die Analysen von Coesit IV und V wertvolle Hinweise für die Interpretation seismischer Daten. Sie können die Beziehungen zwischen tiefen Schmelzen und Vulkanismus sowie zwischen tiefen Schmelzen und Erdbeben erklären helfen“, erläutert Prof. Dr. Natalia Dubrovinskaia vom Labor für Kristallographie der Universität Bayreuth.
Anomale Kristallstrukturen durchbrechen die „Pauling-Regeln“
Die höchst ungewöhnlichen Strukturen von Coesit IV und Coesit V durchbrechen die bis heute von der Fachwelt anerkannten Verknüpfungsregeln, die der US-amerikanische Chemiker und Nobelpreisträger Linus Pauling im Jahr 1954 für Kristalle aufgestellt hat. Diese Regeln postulieren insbesondere, dass die Anzahl verschiedener Bauelemente eines Kristalls dazu tendiert, möglichst klein zu sein, und dass gemeinsame Flächen zweier Polyeder die Stabilität der Struktur verringern und daher unwahrscheinlich sind.
Dessen ungeachtet besitzen die jetzt entdeckten Strukturen bis zu drei verschiedene Bauelemente (SiO4-Tetraeder, SiO5-Pentaeder und SiO6-Oktaeder), und SiO6-Oktaeder haben gemeinsame Flächen. “Es hat ein Jahr gedauert, bis wir durch Untersuchungen in verschiedenen Synchrotronanlagen beweisen konnten, dass diese Strukturen tatsächlich existieren“, sagt die Erstautorin der Studie Dr. Elena Bykova, die vor drei Jahren an der Universität Bayreuth bei Prof. Dubrovinsky und Prof. Dubrovinskaia promoviert hat.
Forschungsförderung:
Die Forschungsarbeiten an der Universität Bayreuth wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.
Veröffentlichung:
E. Bykova, M. Bykov, A. Černok, J. Tidholm, S.I. Simak, O. Hellman, M.P. Belov, I.A. Abrikosov, H.-P. Liermann, M. Hanfland, V.B. Prakapenka, C. Prescher, N. Dubrovinskaia & L. Dubrovinsky: Metastable silica high pressure polymorphs as structural proxies of deep Earth silicate melts, Nature Communications 9, 2018.
DOI: 10.1038/s41467-018-07265-z – Open Access (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/).
Prof. Dr. Leonid Dubrovinsky
Bayerisches Geoinstitut (BGI)
Universität Bayreuth
95447 Bayreuth
Leonid.Dubrovinsky@uni-bayreuth.de
Telefon: +49 (0)92155 -3736 oder -3707
Prof. Dr. Natalia Dubrovinskaia
Labor für Kristallographie
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