"Working Poor" in Deutschland: Sieben Prozent der Erwerbstätigen sind arm, Tendenz steigend

Bislang dämpfte die Zusammensetzung der Haushalte die Entwicklung: Der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglöhnen stieg seit Mitte der 1990er Jahre weitaus stärker als die Armutsquote von Erwerbstätigen. In Zukunft dürfte die Zahl der arbeitenden Armen jedoch zunehmen, weil Geringverdiener immer öfter Haupt- statt Nebenverdiener sind.

Dies macht eine Untersuchung der Sozialforscher Prof. Dr. Henning Lohmann von der Universität Bielefeld und Prof. Dr. Hans-Jürgen Andreß von der Universität zu Köln deutlich. Basis sind die neuesten vorliegenden Daten der europäischen Statistik zu Einkommens- und Lebensbedingungen (EU-SILC).

Ob Arbeitnehmer in Armut leben müssen oder nicht, hängt von ihrem Verdienst ab – aber nicht nur. Entscheidend ist außerdem, wie viele Personen sie miternähren müssen beziehungsweise wie viel finanzielle Unterstützung sie selbst von anderen Haushaltsmitgliedern bekommen. Zudem kommt es auf die staatlichen Umverteilungssysteme an. In allen drei Punkten – Löhne, Haushaltsstrukturen, Steuer- und Sozialsystem – unterscheiden sich die Länder Europas erheblich. In Deutschland lassen vor allem veränderte Haushaltskonstellationen eine Zunahme der Armut trotz Arbeit erwarten, schreiben die beiden Professoren in einem Aufsatz für die aktuelle Ausgabe der WSI Mitteilungen.

Lohmann und Andreß betrachten die Armutsquoten von Personen im erwerbsfähigen Alter, die im zurückliegenden Jahr wenigstens sechs Monate gearbeitet haben. Als arm gilt, wer ein nach Haushaltsbedarf gewichtetes Nettoeinkommen hat, das unter 60 Prozent des mittleren Werts im jeweiligen Land liegt. So ergeben sich in den betrachteten Staaten – EU-27 plus Norwegen und Island – für 2008 Working-Poor-Quoten zwischen 3,9 und 16,9 Prozent. Die niedrigste Erwerbstätigen-Armutsquote verzeichnete Tschechien, die höchste Rumänien. Mit 6,9 Prozent liegt Deutschland 2008 im Mittelfeld.

Die Berechnungen der Wissenschaftler zeigen darüber hinaus, in welchem Maße unterschiedliche Faktoren für die Armut von Beschäftigten verantwortlich sind. Lohmann und Andreß zerlegen den Prozess der Einkommensverteilung dazu in mehrere Schritte. Beispiel Deutschland: Schaut man nur auf die Erwerbseinkommen, waren 2006 knapp 18 Prozent der Arbeitnehmer arm. Berücksichtigt man Bedarf und Einkommen anderer Haushaltsmitglieder, sinkt die Armutsquote jedoch auf weniger als 11 Prozent. Nach Abzug von Steuern und Hinzurechnung von Sozialleistungen halbiert sich die Quote fast noch einmal.

In Deutschland dämpft die Zusammensetzung der Haushalte die Armutsquote. Weil viele – oft weibliche – Geringverdiener mit besser verdienenden Partnern zusammenleben, führen niedrige Verdienste nicht zwangsläufig zu Armut. In den meisten Ländern ist dieser Effekt schwächer, in einigen sogar das genaue Gegenteil zu beobachten: Für Spanien, Tschechien und Polen beispielsweise ergibt sich durch die Einbeziehung des Haushaltskontextes ein höherer Anteil arbeitender Armer. Hier kämen viele Arbeitnehmer als Single gut mit ihrem Einkommen zurecht, rutschen aber wegen des Bedarfs von Partnern und Kindern unter die Armutsschwelle.

Deutliche Unterschiede zwischen den Ländern zeigen sich zudem bei den Wirkungen der staatlichen Umverteilungssysteme. Beispielsweise haben sowohl Irland als auch Spanien vor Steuern und Sozialleistungen Working-Poor-Quoten von rund 14 Prozent. Irland gelingt es jedoch, die Quote mit staatlicher Umverteilung auf 6 Prozent zu drücken, während in Spanien trotz Transferleistungen 10 Prozent der Beschäftigten arm bleiben.

Die Entwicklung der Armutsquoten Erwerbstätiger lässt keinen gesamteuropäischen Trend erkennen, so die Forscher. Es gibt Länder mit steigenden und solche mit sinkenden Working-Poor-Raten. Deutschland zählt zu den Ländern, in denen die Armut unter Arbeitnehmern zunimmt. Das ist sowohl aus der EU-SILC-Statistik ablesbar als auch aus Analysen mit dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), das zeitliche Entwicklungen präziser widerspiegelt. Laut SOEP waren 1997 gut 10 Prozent der Niedriglohnbezieher arm, 2008 schon fast 18 Prozent. Ein wichtiger Grund dafür sei, dass Geringverdiener immer öfter Alleinverdiener sind, schreiben Lohmann und Andreß. Angesichts eines insgesamt ohnehin wachsenden Niedriglohnsektors sehen die Wissenschaftler in diesem Trend ein Anzeichen für zunehmende soziale Probleme. Niedriglohnbeschäftigung könne nicht mehr mit dem Hinweis gerechtfertigt werden, dabei handele es sich doch nur um Zusatzeinkommen für Mittelschicht-Haushalte.

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