Callcenter: Arbeitsbedingungen durch weit verbreitete Tariflosigkeit unter Druck

In der Callcenter-Branche fehlen überbetriebliche Mindeststandards. Nur jedes achte Callcenter ist noch durch einen Flächentarifvertrag erfasst. Durch tariflose Konkurrenz geraten auch Entlohnung und Arbeitsbedingungen von Telefonisten unter Druck, die früher zu den vergleichsweise guten Konditionen großer Konzerne arbeiteten.

So charakterisiert Dr. Hajo Holst von der Universität Jena die Entwicklung in der Branche, die längst zu den größeren im Dienstleistungssektor gehört. Ein Aufsatz zu seiner Untersuchung ist in den WSI Mitteilungen erschienen, der Fachzeitschrift des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.*

Fast 500.000 Arbeitsplätze gibt es in deutschen Callcentern. Ein großer Teil des Branchenwachstums fand in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre nach der Liberalisierung des Telekommunikationssektors statt. Mit dem Platzen der New-Economy-Blase kam die Ausdehnung zwar zum Stillstand; in jüngster Zeit wächst die Beschäftigtenzahl jedoch wieder. Der Soziologe Holst hat untersucht, wie sich die Arbeitsbeziehungen in diesem Wirtschaftszweig verändert haben. Der Wissenschaftler sieht Callcenter als beispielhaft an für die „zahlreichen neuen Branchen des expandierenden Dienstleistungssektors, die allenfalls rudimentär in das duale System der Interessenvertretung integriert sind“. Er zeichnet die Entwicklung der vergangenen beiden Jahrzehnte nach und zeigt, wie erhöhter Konkurrenzdruck und schwindende Verhandlungsmacht zur Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen führen können.

Holsts Untersuchung basiert auf über 40 Interviews mit Beschäftigten, Gewerkschafts-, Unternehmens- und Branchenvertretern. Im Rückblick unterteilt der Sozialforscher die Entwicklung des Wirtschaftszweigs in drei Phasen:

– Die Etablierungsphase –
Für diesen Abschnitt setzt der Wissenschaftler die Jahre von 1990 bis 1995 an. Die damals relativ wenigen Callcenter waren meist Abteilungen von Großunternehmen – deren Arbeits- und Entlohnungsstandards den jeweiligen Branchentarifen unterlagen. Die ersten Telefonzentralen, die den Charakter heutiger Callcenter hatten, fanden sich zunächst fast alle bei der Deutschen Bundespost und den großen Versandhäusern Neckermann, Quelle und Otto. Gezahlt wurde nach dem Angestellten-Tarif der Post beziehungsweise den allgemeinverbindlich erklärten Einzelhandelstarifen. Die Versandhändler arbeiteten in dieser frühen Phase allerdings schon mit externen Dienstleistern zusammen: Das Randgeschäft außerhalb der Hauptanrufzeiten überließen sie kleinen, nicht tarifgebundenen, Anbietern.
– Die Expansionsphase –
In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre stieg die Beschäftigung stark an. Jenseits der internen Callcenter entstand „ein schnell wachsender Rand nicht regulierter Arbeitsverhältnisse mit einem hohen Prekaritätsrisiko“, so Holst. Vor allem die fortschreitende Liberalisierung des Telefon- und Internetmarkts ließ die Callcenter-Beschäftigung steil ansteigen. Dafür sorgten neue Anbieter wie Arcor und E-Plus. Bemühungen, den Telekom-Tarifvertrag auf die gesamte Telekommunikationsbranche auszudehnen, scheiterten. Im Ergebnis gab es nun interne Telekom-Callcenter, die 20 Mark pro Stunde zahlten – und externe Anbieter, deren Beschäftigte 12 Mark oder noch weniger verdienten. Ähnlich verlief die Entwicklung im Versandhandel. Ansätze, beide Teilbereiche als eine neu entstandene Branche aufzufassen und auf dieser Basis zu neuen überbetrieblichen Regulierungen zu kommen, gab es zunächst nicht.
– Die Konsolidierungsphase –
Ab 2003 seien die Callcenter schließlich zu einem eigenständigen Wirtschaftszweig zusammengewachsen, schreibt Holst. Damit hätten die Tarifnormen der Ursprungsbranchen aber ihren früheren Einfluss auf die Branche verloren. So seien „die Standards der nicht tarifgebundenen Dienstleister faktisch zum Referenzpunkt der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen im gesamten Wirtschaftszweig geworden“. Inzwischen gilt nach Schätzung von Wissenschaftlern nur noch für jedes achte Callcenter ein Flächentarifvertrag. In einem weiteren Achtel existieren Haus- oder Unternehmenstarifverträge. Die Arbeitskonditionen werden heute in erster Linie auf Betriebs- oder Unternehmensebene bestimmt.

Auch wer noch zu relativ komfortablen Bedingungen in der – nicht ausgelagerten – Telefonzentrale eines großen Konzerns arbeitet, profitiere kaum mehr von einer guten Ertragslage des Unternehmens, konstatiert Holst. Denn die verbliebenen internen Callcenter seien ständig mit einer „latenten und nicht selten sogar expliziten Fremdvergabebedrohung“ konfrontiert. Am ehesten ließe sich die Situation verbessern, wenn es gelänge, die bislang in verschiedenen Branchen unabhängig voneinander geführten Auseinandersetzungen innovativ zu verbinden, meint der Wissenschaftler. Nur so ließen sich langfristig wirksame Vertretungsstrukturen für die gesamte Callcenter-Branche etablieren.

*Hajo Holst: Fragmentierung überbetrieblicher Arbeitsbeziehungen – Tarifverträge und gewerkschaftliche Interessenvertretung in Callcentern, in: WSI-Mitteilungen 10/2011
Infografik zum Download im Böckler Impuls 17/2011:
http://www.boeckler.de/hbs_showpicture.htm?id=38210&chunk=1
Ansprechpartner in der Hans-Böckler-Stiftung
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
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