Neue Erbkrankheit des kindlichen Gehirns identifiziert

Es gibt Infektionskrankheiten, die sich auch auf das sich entwickelnde Kind im Mutterleib auswirken. Das heißt dann: zu klein der Kopf, die geistige und motorische Entwicklung verzögert, Störungen beim Hören und Sehen sowie Epilepsie.

Dies sind Anzeichen einer nicht normal verlaufenden Entwicklung eines Kindes. Häufig kann dafür eine Virusinfektion während der Schwangerschaft der Mutter verantwortlich gemacht werden. Die Diagnose kann dann lauten: „angeborene Cytomegalovirus (CMV)-Infektion“. Sie gilt als weltweit häufigste angeborene Virusinfektion. Ursache für die gleichen Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung kann aber auch ein erblicher Gendefekt sein.

Dies hat jetzt ein Forscherteam unter Leitung von Wissenschaftlern aus der Abteilung Pädiatrie II mit Schwerpunkt Neuropädiatrie (Direktorin: Prof. Dr. Jutta Gärtner) in Zusammenarbeit mit dem Transkriptomanalyselabor der Universitätsmedizin Göttingen entdeckt. Das Forscherteam identifizierte erstmals ein primär defektes Gen, das eine Erkrankung herbeiführt, die einer angeborenen CMV-Infektion des Gehirns ähnelt: das RNASET2-Gen. Die Erkenntnisse der Forschungen wurden in der Juli 2009-Ausgabe der renommierten, internationalen Fachzeitschrift „NATURE GENETICS“ veröffentlicht.

Bei Aufnahmen des Gehirns mit Hilfe der Kernspintomografie zeigen sich bei Kindern mit angeborener CMV-Infektion charakteristische Muster von Hirngewebsveränderungen. „Diese Muster finden sich genauso auch bei Kindern, die den neuen, beschriebenen spezifischen Gendefekt geerbt haben. Bisherige Diagnosemethoden wie Kernspintomografie reichen also nicht aus, um die Ursachen für kindliche Entwicklungsstörungen genau zu bestimmen“, sagt der Erstautor der Publikation, Dr. Marco Henneke aus der Abteilung Pädiatrie II mit Schwerpunkt Neuropädiatrie der Universitätsmedizin Göttingen. „Ein erblicher Defekt im RNASET2-Gen führt zu einer Erkrankung, die genauso aussieht wie die schon lange bekannte angeborene Virusinfektion des Gehirns. Anhand ihres klinischen Erscheinungsbildes und ihrer Veränderungen im Gehirn kann man diese erblich bedingte Erkrankung nicht von einer Cytomegalovirus-Infektion des Gehirns unterscheiden, die während der Schwangerschaft erworben wurde.“

Die Entdeckung des verantwortlichen Krankheitsgens hat zu der Beschreibung einer neuen erblichen Erkrankung des Gehirns geführt. Die neu entdeckte Erkrankung wird wegen des zugrunde liegenden Gendefekts und der blasenartigen so genannten zystischen Veränderungen des Gehirns als „RNASET2-defiziente zystische Leukoenzephalopathie“ bezeichnet.

Die Forscher konnten zeigen: Mutationen, also die Veränderungen des primären Krankheitsgens, des RNASET2-Gens, führen zu einem Funktionsverlust des RNASET2-Glykoproteins. Bislang ist sehr wenig über die Funktion des RNASET2-Proteins bekannt. Insbesondere ist seine Bedeutung für die Entwicklung des Gehirns und die Funktion des zentralen Nervensystems unklar. „Eine Rolle im RNA-Stoffwechsel der Zelle, dessen Bedeutung kürzlich auch für andere Hirnerkrankungen erkannt wurde, ist jedoch wahr-scheinlich. Wir nehmen auch an, dass es Gemeinsamkeiten im Enstehungsmechanismus der durch eine erworbene Infektion und der durch einen ererbten Gendefekt herbeigeführten Erkrankung gibt. Wir suchen daher jetzt weiter nach einem Grund, warum die angeborene CMV-Infektion des Gehirns und die erbliche 'RNASET2-defiziente zystische Leukoenzephalopathie' die gleichen klinischen Symptome und die gleichen Hirnveränderungen bei Kindern hervorrufen können“, sagt Prof. Jutta Gärtner.

Die Entdeckung des Gendefekts ist durch umfangreiche molekulargenetische Arbeiten in Kooperation mit Prof. Peter Nürnberg vom Cologne Center for Genomics der Universität Köln sowie weiteren in- und ausländischen Wissenschaftlern gelungen. Zunächst hat das Forscherteam eine das gesamte Erbgut (Genom) umfassende Kopplungsanalyse an zwei verwandten Familien mit mehreren von der Erkrankung betroffenen Kindern durchgeführt. Auf diese Weise konnten sie den Krankheitsort, den sogenannten „Krankheitslokus“ auf dem menschlichen Chromosom 6 identifizieren. In aufwändigen weiteren Analysen (Se-quenzierung von Kandidatengenen, Transkriptomanalysen) konnten die Forscher schließlich bei den vier betroffenen Kindern der beiden untersuchten Familien und auch bei weiteren Patienten aus nicht blutsverwandten Familien Mutationen im RNASET2-Gen nachweisen. Damit identifizierten sie erstmals ein Gen, das diese CMV-ähnliche Erkrankung verursacht. Über weitere grundlagenwissenschaftliche Untersuchungen wollen die Göttinger Forscher nun im Detail die Krankheitsmechanismen der „RNASET2-defizienten zystischen Leukoenzephalopathie“ mit Hilfe von Zell- und Mausmodellen besser verstehen und klären. Denn nur auf diese Weise können zukünftige Therapiemöglichkeiten für die betroffenen Kinder entwickelt werden.

Originalveröffentlichung:
RNASET2-deficient cystic leukoencephalopathy resembles congenital cytomegalovirus brain infection. in: Journal:Nature Genetics 2009 July; 41(7):773-775. Epub 2009 June 14.

Autoren: Marco Henneke*, Simone Diekmann*, Andreas Ohlenbusch*, Jens Kaiser*, Volkher Engelbrecht, Alfried Kohlschütter, Ralph Krätzner*, Marcos Madruga-Garrido, Michèle Mayer, Lennart Opitz#, Diana Rodriguez, Franz Rüschendorf, Johannes Schumacher, Holger Thiele, Sven Thoms*, Robert Steinfeld*, Peter Nürnberg, Jutta Gärtner*.

(*Mitarbeiter der Abteilung Pädiatrie II der Universitätsmedizin Göttingen; #Mitarbeiter des Transkriptomanalyselabors der Universitätsmedizin Göttingen)

WEITERE INFORMATIONEN:
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
Direktorin der Abteilung Pädiatrie II mit Schwerpunkt Neuropädiatrie
Prof. Dr. Jutta Gärtner, Telefon 0551 / 39-8035
E-Mail: gaertnj@med.uni-goettingen.de

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Stefan Weller idw

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