Molekulare Notbremse im Auge

Das menschliche Auge ist sehr anpassungsfähig: Es sieht im grellen Sonnenlicht ebenso wie in der Dämmerung oder bei Nacht. Dafür nutzt es zwei verschieden empfindliche Typen von Sinneszellen, die Zapfen und die Stäbchen.

Wie das Auge sicherstellt, dass zwei so unterschiedliche Systeme optimal zusammenarbeiten können und dabei verhindert, dass es zu Blendungsempfindungen kommt, haben Jülicher Forscher zusammen mit Kollegen aus Tübingen, Oldenburg und Dublin nun herausgefunden. Ihre Ergebnisse stellen sie in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Nature Communications“ vor.

Zwei unterschiedlich empfindliche Typen von Sinneszellen in der Netzhaut bestimmen das menschliche Sehen, die Stäbchen und die Zapfen. Während bei Dunkelheit die empfindlichen Stäbchen aktiv sind, reagieren bei Sonnenschein die Zapfen – die dann das Sehen bei einem bis zu zehn Millionen Mal stärkeren Lichteinfall ermöglichen. In einem Übergangsbereich, zum Beispiel der Dämmerung, müssen beide Sehzelltypen parallel arbeiten. „Hierfür ist ein ausgeklügelter Steuerungsmechanismus nötig“, sagt der Neurobiologe Prof. Frank Müller vom Forschungszentrum Jülich, einer der Autoren der Studie. „Denn die Stäbchen senden ihre Signale an die gleichen Nervenzellen wie die Zapfen. Wenn die empfindlichen Stäbchen bei hohem Lichteinfall vollen Empfang melden, werden diese Nervenbahnen blockiert und wir sind geblendet, obwohl die Zapfen uns das Sehen durchaus ermöglichen würden. Das Auge muss sicherstellen, dass die Stäbchen diese Blendempfindung nicht weiterleiten, damit die Zapfensignale nicht untergehen.“

Die Wissenschaftler haben nun einen molekularen Schalter identifiziert, der genau an dieser Stelle regulierend eingreift. „Wir nennen ihn salopp Notbremse“, sagt Müller, „es handelt sich dabei um einen bestimmten Zellbaustein in den Stäbchen, einen sogenannten Ionenkanal.“ Dieser Ionenkanal mit dem Namen HCN1 wird aktiviert, wenn das Signal aus den Stäbchen stark ansteigt – also bei zunehmendem Lichteinfall. Er reduziert dann das Signal automatisch, damit es die anderen Nervenzellen in der Netzhaut nicht „überschwemmt“. Diese Nervenzellen bleiben dadurch empfangsbereit für die eintreffenden Signale aus den Zapfen. „Ohne diesen Schalter hätten wir schon bei wenig Licht dauerhaft das Gefühl, geblendet zu werden“, erläutert Müller.

Der Funktion dieses Ionenkanals waren die Forscher durch Experimente mit Mäusen auf die Spur gekommen. Durch einen gezielten genetischen Defekt können die Mäuse den Ionenkanal nicht bilden. Das führte dazu, dass die Zellen in der Netzhaut der Mäuse schon bei einfachen Lichtreizen so reagierten, als wären sie durch helles Licht geblendet. Indem die Forscher untersuchten, wie sich die Antworten von Netzhautzellen nach dem gezielten Ausschalten weiterer Signalproteine und Signalwege in den Stäbchen- und Zapfenpfaden ändern, konnten sie die Weiterleitung der Stäbchensignale durch das gesamte retinale Netzwerk verfolgen.

„Die Arbeiten werfen nicht nur neues Licht darauf, wie das komplexe Netzwerk in der Retina seine Gratwanderung zwischen hoher Empfindlichkeit und früher Sättigung meistert, sondern erweitern auch die Grundlage für unser generelles Verständnis, wie Sehen funktioniert“, fasst Prof. Müller die Arbeit zusammen.

Originalveröffentlichung:
Modulation of rod photoreceptor output by HCN1 channels is essential for regular mesopic cone vision. Seeliger, M.W., Brombas, A., Weiler, R., Humphries, P., Knop, G., Tanimoto, N., and Müller, F. Nature Communications 2:532 | DOI: 10.1038/ncomms1540
Weitere Informationen:
Forschungszentrum Jülich
Institute of Complex Systems, Zelluläre Biophysik (ICS-4) http://www.fz-juelich.de/ics/ics-4/DE/Home/home_node.html
Ansprechpartner:
Forschungszentrum Jülich
Prof. Dr. Frank Müller
Institute of Complex Systems, Zelluläre Biophysik (ICS-4)
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E-mail: f.mueller@fz-juelich.de
Pressekontakt:
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… betreibt interdisziplinäre Spitzenforschung, stellt sich drängenden Fragen der Gegenwart und entwickelt gleichzeitig Schlüsseltechnologien für morgen. Hierbei konzentriert sich die Forschung auf die Bereiche Gesundheit, Energie und Umwelt sowie Informationstechnologie. Einzigartige Expertise und Infrastruktur in der Physik, den Materialwissenschaften, der Nanotechnologie und im Supercomputing prägen die Zusammenarbeit der Forscherinnen und Forscher. Mit rund 4 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gehört Jülich, Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft, zu den großen Forschungszentren Europas.

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