Von Fischen über Nervenkrankheiten lernen

Bei erblichen spastischen Paraplegien (englisch: hereditary spastic paraplegia, HSP) verkümmern die Fortsätze von Nervenzellen im Rückenmark, die Signale an die untere Hälfte des Körpers senden. Bereits bekannt sind bisher mehr als 50 Gene, die HSP auslösen können. Woran genau die Nerven der Erkrankten zugrunde gehen, ist jedoch noch nicht entschlüsselt.

Eine wirksame Therapie gibt es bisher nicht. Jetzt hat ein internationales Team von Wissenschaftlern unter der Leitung von Dr. Roland Dosch vom Institut für Entwicklungsbiochemie (Direktor: Prof. Dr. Tomas Pieler) der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) und dem Göttinger Zentrum für Molekulare Biowissenschaften (GZMB) herausgefunden: Möglicherweise ist ein Defekt im Transport bestimmter Signalmoleküle im Inneren der Nervenzellen für eine Variante der Krankheit verantwortlich.

Die Erkenntnisse der Forscher beruhen auf Untersuchungen von gesunden und erkrankten Eizellen des Zebrafischs „Danio rerio“. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift der Public Library of Science „PLoS Genetics“ veröffentlicht.

Originalpublikation: Kanagaraj P, Gautier-Stein A, Riedel D, Schomburg C, Cerdà J, Vollack N, Dosch R.: Souffle/Spastizin controls secretory vesicle maturation during zebrafish oogenesis. PLoS Genet. 2014 Jun 26;10(6):e1004449. doi: 10.1371/journal.pgen.1004449. eCollection 2014.

TRANSPORTSYSTEM IN ZELLEN ERFORSCHT
Ursprünglich wollte die Arbeitsgruppe untersuchen, wie das Gen „soufflé“ die Entwicklung von Eizellen des Zebrafisches steuert. Bereits bekannt war, dass „soufflé“ notwendig ist, damit Zellen Moleküle aus ihrer Umgebung in kleinen Membranbläschen, den Vesikeln, aufnehmen können. In diesen Vesikeln transportieren Zellen in ihrem Inneren zahlreiche Proteine und andere Verbindungen hin und her – wie ein mikroskopisches Logistikunternehmen, bei dem die Vesikel als Container für die Waren fungieren.

„Wir haben nun entdeckt, dass ‚soufflé‛ auch für den Transport in umgekehrter Richtung unentbehrlich ist“, sagt Dr. Roland Dosch. Eizellen, denen „soufflé“ fehlte, konnten wichtige Proteine nicht mehr nach außen abgeben. Wie die Göttinger Wissenschaftler herausfanden, lag der Fehler bereits beim Beladen der „Container“: Diese konnten sich nicht mehr von der zellulären Sortierstation abschnüren, wo sie ihre Fracht aufnehmen; sie hingen fest.

„Eizellen von einem Fisch haben eine ganze Menge mit einer neurodegenerativen Erkrankung beim Menschen gemeinsam“, sagt Dr. Amandine Gautier-Stein, Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe, die inzwischen an der Universität Lyon forscht. „Soufflé ist das Zebrafisch-Pendant zu Spastizin beim Menschen. Und das ist eines der Gene, die die Krankheit HSP auslösen können.“ Die Forscher vermuten daher, dass auch bei HSP-Patienten, die ein defektes Spastizin-Gen besitzen, mit den Vesikeln etwas nicht stimmt.

Die bei HSP-Patienten betroffenen Nervenzellen im Rückenmark haben ausgesprochen lange Fortsätze. Die Fortsätze sind auf Wachstumssignale angewiesen, damit sie funktionstüchtig bleiben. Bei gesunden Menschen sendet die Nervenzelle selbst diese Signale:

Das ständige Weiterleiten von Reizen sorgt dafür, dass die Zelle fortwährend die notwendigen wachstumsfördernden Botenstoffe produziert und sie mit Vesikeln in die Fortsätze verschickt, an deren Enden sie ausgeschüttet werden. Bei Menschen, die an HSP erkrankt sind, funktioniert dies vermutlich nicht. Dadurch verlieren die Betroffenen langsam die Kontrolle über ihre Beine. Irgendwann sind sie vollständig spastisch gelähmt und für den Rest ihres Lebens auf einen Rollstuhl angewiesen. Oft treten weitere Behinderungen auf.

Interessanterweise nutzen Nervenzellen für den Transport der Wachstumssignale genau den gleichen Vesikeltyp wie Zebrafisch-Eizellen, wenn diese Proteine nach draußen senden. „Es könnte sein, dass ein ähnlicher Prozess abläuft wie beim Zebrafisch-Ei mit fehlendem soufflé. Ein Defekt im Spastizin-Gen beim Menschen könnte dazu führen, dass die Nervenzelle die Vesikel nicht mehr auf die Reise schicken kann“, sagt Palsamy Kanagaraj, Doktorand am Institut für Entwicklungsbiochemie der UMG. Die Folge: Die Nervenzell-Fortsätze erhalten keine Wachstumssignale mehr. Sie sterben ab.

Noch ist allerdings unklar, ob sich die beim Zebrafisch gewonnenen Erkenntnisse der Forscher tatsächlich auf die Krankheit HSP übertragen lassen. „Unsere Forschungsergebnisse bieten einen neuen Ansatz, um zu erklären, warum bestimmte Nervenzellen der HSP-Patienten nicht mehr funktionieren. Die Herausforderung wird in Zukunft sein, dieses faszinierende Modell für das menschliche Nervensystem zu bestätigen“, sagt Dr. Dosch.

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Stefan Weller idw - Informationsdienst Wissenschaft

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