Eine "prekäre Generation" im Osten?

Brennende Autos, demolierte Geschäfte und Straßenschlachten mit der Polizei: nichts Neues in den Banlieues, den französischen Vorstädten. Aber sind solche Gewaltausbrüche auch in Deutschland möglich? In einem interdisziplinären Workshop an der Friedrich-Schiller-Universität Jena fragen Soziologen, Historiker und Erziehungswissenschaftler am 17. und 18. Dezember im großen Sitzungssaal der Rosensäle (Fürstengraben 27) nach einer „génération précaire im Osten?“.

„Ausgehend vom französischen Begriff der génération précaire wollen wir schauen, wie weit er bis nach Osteuropa und den Osten Deutschlands reicht“, sagt Prof. em. Dr. Lutz Niethammer, Projektleiter im Sonderforschungsbereich (SFB 580) „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Schon jetzt legen die Befunde der Wissenschaftler es nahe, von „verdüsterten Lebensperspektiven“ vieler Jugendlicher im Osten zu sprechen. Zugleich sei jedoch festzustellen, dass die Umbruchsituation durchaus auch als Chance begriffen wird. Peter F. N. Hörz (Wiesbaden) spricht in seinem Vortrag „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt“ etwas zugespitzt von jungen Ostdeutschen als Avantgarde einer „neuen Verfleißigung“. „Uns interessieren die Selbstdeutungen dieser jungen Menschen, ihre eigenen Erfahrungen“, sagt Dr. Rüdiger Stutz, der den Workshop gemeinsam mit Michael Busch und Jan Jeskow vorbereitet hat.

Der auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurückgehende Begriff „génération précaire“ wird in etwa mit dem deutschen „Generation Praktikum“ gleichgesetzt. Gemeint sind Jugendliche, die trotz guter Ausbildung gar nicht oder nur mit Mühe auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen. Gegen dieses Gefühl des nicht-gebraucht-Werdens, gegen die Endlos-Warteschleife von Praktika formierte sich erstmals im Herbst 2005 in Frankreich organisierter Widerstand. Sein äußeres Zeichen: Die Demonstranten traten stets mit weißen Gesichtsmasken auf, weil die Anonymität Schutz vor Nachteilen versprach. „Diese Jugendlichen sind keine Protestgeneration wie die 68er, aber sie sind auch nicht unpolitisch“, sagt Stutz. Vorherrschend sei ein eher diffuses Zusammengehörigkeitsgefühl, verbunden mit dem Versuch, sich individuell durchzusetzen.

Der Blick der Wissenschaftler wird über Grenzen hinweggehen, die westeuropäische Sicht insbesondere von Frankreich aus thematisieren. Frauke Austermann (London) berichtet über eigene Erfahrungen in der französischen Bewegung „génération précaire“. Weitere Teilnehmer des Workshops stellen einen deutsch-polnischen Vergleich an und fragen nach den Perspektiven Jugendlicher im post-sowjetischen Litauen. In den Fokus rückt aber auch der Ost-West-Gegensatz in Deutschland. Rüdiger Stutz: „Wir fragen im Workshop danach, ob die Ost-West-Differenz stärker ist als das jugendgemäße Zusammengehörigkeitsgefühl über diesen Gegensatz hinweg.“

Kontakt:
Dr. Rüdiger Stutz
Sonderforschungsbereich 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ der Universität Jena
Bachstraße 18, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 945063
E-Mail: ruediger.stutz[at]uni-jena.de

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Stephan Laudien idw

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