Simulator berechnet Evakuierung bei Großveranstaltungen

Wie sich die Besucherströme bei Massenveranstaltungen verhalten, ist trotz aller Erfahrungswerte nur schwer vorhersehbar. Um mögliche Katastrophen zu verhindern, müssen Polizei, Rettungsdienste und Veranstalter jedoch gefährliche Engpässe, versteckte Hindernisse und überraschende Laufwege im Voraus erkennen.

Eine Forschergruppe mit Ingenieuren und Informatikern der Technischen Universität München (TUM) hat nun einen Simulator entwickelt, mit dem verschiedene Szenarien an konkreten Veranstaltungsorten berechnet werden können. Das Programm zeigt das Verhalten von Zehntausenden Personen und kann so die Notfallplanung wesentlich erleichtern.

Samstag, 17.20 Uhr, auf dem Betzenberg in Kaiserslautern: 40.000 Fußballfans rivalisierender Vereine strömen nach dem Abpfiff des Fußballbundesligaspiels aus dem Fritz-Walter-Stadion zu Parkplätzen und Bahnhöfen – schon ohne besondere Zwischenfälle eine schwierige Situation für Polizei und Ordnungsdienste. In Not- und Katastrophenfällen aber kann die Steuerung der Besucher über Menschenleben entscheiden. Die Planer von Großveranstaltungen müssen deshalb möglichst genau vorausberechnen: Wohin bewegen sich die Menschen? Was geschieht, wenn einzelne Wege blockiert sind? Wie kann das Gelände möglichst schnell evakuiert werden?

Antworten auf diese Fragen sind auch bei regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen schwierig zu geben. „Schon vermeintlich kleine Hindernisse können die Besucherströme entscheidend beeinflussen“, sagt Angelika Kneidl vom Fachgebiet Computergestützte Modellierung und Simulation der TUM. Der von den Wissenschaftlern entwickelte Simulator soll deshalb künftig helfen, solche Unwägbarkeiten im Voraus zu erkennen. „Mit dem Programm können wir beliebig viele ,Was wäre wenn?’-Szenarien durchspielen“, sagt Kneidl.

Entwickelt haben die Forscher mehrerer Hochschulen und Unternehmen den Simulator in Zusammenarbeit mit den Behörden und Sicherheitskräften in Kaiserslautern. Neben der Topographie des Areals rund um das Fritz-Walter-Stadion und Daten über die Fans konnten die Wissenschaftler auf bekannte Forschungsergebnisse über das Bewegungsverhalten in größeren Gruppen zurückgreifen. „Man weiß zum Beispiel, dass sich Fußgänger an Engpässen in unterschiedlichen Formationen stauen, je nachdem wie breit der Durchgang und der Weg sind“, erklärt Kneidl. „Oder dass Menschen dazu neigen, in Bahnen anderen Menschen hinterherzulaufen.“ Um besser zu verstehen, wie Fußgänger Ziele in einer Stadt erreichen, die sie nur ungefähr kennen, schickten die Wissenschaftler 150 Erstsemester vom TUM-Hauptgebäude zum Hofbräuhaus. „Die Bandbreite der protokollierten Routen war groß“, sagt Kneidl. „Aber es gibt Muster, die wir nutzen konnten: Zum Beispiel bevorzugten die meisten lange Geraden und orientierten sich an prominenten Plätzen.“

Die Programmierung der Simulation beruht auf einem Kräftemodell, bei dem die jeweiligen Ziele sowie Hindernisse und andere Personen Kräfte auf jeden einzelnen Fußgänger ausüben. „Eine der Herausforderungen war es, diese Kräfte so zu modellieren, dass das Programm auf alle möglichen Szenarien und die unterschiedlichen Verhaltensweisen anwendbar ist“, sagt Fachgebietsleiter Prof. André Borrmann. Schließlich bewegen sich nicht alle Besucher gleich: Manche kennen die Wege bereits, andere müssen sich erst vor Ort orientieren. Die Forscher lösten das Problem, indem sie aus der Geometrie des Areals einen zusätzlichen Graphen für die Navigation der Fußgänger erzeugten. In dem Graphen wird mit verschiedenen Routing-Algorithmen, welche die unterschiedlichen Bewegungsmuster darstellen, nach Pfaden entlang möglicher Zwischenziele gesucht.

Das Programm ist so gestaltet, dass es Anwender als Trainingssimulator selbst bedienen können. Die sogenannte mikroskopische Simulation bildet jeden einzelnen der Zehntausenden Besucher ab, sodass Sicherheits- und Rettungskräfte detailliert nachvollziehen können, welche Auswirkungen einzelne Entscheidungen im Ernstfall hätten. Die unterschiedliche Dichte der Menge wird zudem farbig dargestellt. Das Programm ist auch deshalb besonders anwenderfreundlich, weil es die Simulation in Echtzeit zeigt, während üblicherweise für mikroskopische Simulationen eine lange Rechenzeit benötigt wird.

Künftig könnte ein solcher Simulator für jede Großveranstaltung programmiert werden, bei der wie in Kaiserslautern zum einen die Topographie des Areals sowie die ungefähre Größe und Zusammensetzung der Personenmenge bekannt sind und zum anderen die Besucher feste Ziele haben. Für Orte, an denen Besucher wie etwa in Freizeitparks ohne Ziel flanieren, ist das Modell dagegen nicht anwendbar. Auch Paniksituationen, in denen Menschen nicht mehr rational handeln, können nicht simuliert werden. „Aber unser Ziel ist ja“, sagt Kneidl, „durch vorausschauende Planung Panik gar nicht erst aufkommen zu lassen.“

Die Partner des Projekts „REPKA (Regionale Evakuierung: Planung, Kontrolle und Anpassung)“ wollen den Simulator nun zur Marktreife entwickeln. Beteiligt sind neben der TUM die Technische Universität Kaiserslautern, Siemens, das Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen, IT2media und die Hochschule München. Gefördert wird REPKA vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Bilder zum Download:
http://mediatum.ub.tum.de/?id=1097675
Ansprechpartnerin:
Angelika Kneidl
Technische Universität München
Fachgebiet Computergestützte Modellierung und Simulation
Telefon: 089 289 23062
E-Mail: kneidl@bv.tum.de
Mehr Informationen:
http://www.repka-evakuierung.de/

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Angelika Kneidl Technische Universität München

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