Psychiater verordnen zu viele Psychopharmaka an pflegebedürftige Menschen mit Demenz

„Die Gruppe der 80 – 90jährigen bekommt in Deutschland die meisten Medikamente verschrieben, viele gleich mehrere, und damit steigt das Risiko von Wechselwirkungen“, sagt Dr. Stefan Wilm – selbst niedergelassener Arzt und Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Familienmedizin an der Universität Witten/Herdecke.

Er beklagt, dass gerade ältere Menschen genau deswegen ins Krankenhaus eingewiesen werden müssten, weil die behandelnden Ärzte verordnen, ohne das Risiko für den Patienten zu überblicken: „In einer gerade abgeschlossenen Studie in Wittener und Dortmunder Pflegeheimen haben wir in Zusammenarbeit mit der Pflegewissenschaft gefunden, dass alle 160 Bewohner im Durchschnitt sechs Medikamente nehmen, ein zehntel sogar mehr als zehn!“ berichtet er. Mehr als fünf Medikamente sollte kein älterer Mensch nehmen, so die gültige Lehrmeinung. Der Körper kann den Cocktail nicht verarbeiten, und die Wechselwirkungen stellen ein hohes Risiko dar. „In Deutschland sterben geschätzt pro Jahr 20.000 Menschen an den Nebenwirkungen von Medikamenten – dreimal so viele wie im Straßenverkehr“.

Wilms Appell an seine Kollegen lautet daher: Weniger ist mehr! Das möchte er beim 5. Tag der Forschung in der Hausarztpraxis, am Mittwoch, 14. April 2010 von 17:00 – 20:00 Uhr in der Universität Witten/Herdecke, Alfred-Herrhausen-Str. 50, auch den Hausärzten aus Witten und Umgebung vermitteln.

Der Griff zur Pille ist dabei gerade in Pflegeheimen sehr verbreitet, beklagt Wilm: „Drei viertel der Bewohner, die wir in unserer Studie erfasst haben, wurden mit Psychopharmaka geradezu ruhig gestellt. Und das ist durchaus repräsentativ für den Umgang mit Demenz-Patienten.“ Ein zehntel der Bewohner bekamen sogar mehr als drei Psychopharmaka gleichzeitig verabreicht. Besonders fleißig verschreiben laut der Studie Psychiater und Neurologen – sie übertreffen die Hausärzte um das Doppelte bis Vierfache bezogen auf Menge und Dosierung. „Die Mittel wirken im Gehirn gegen die bei Demenzpatienten oft auftretende Aggression und Unruhe. Insofern haben sie in manchen Fällen ihre Berechtigung. Studien haben aber gezeigt, dass diese Patienten auch früher versterben. Da muss man doch einen Mittelweg finden, wie man die Verschreibungen verringern kann.“

Weitere Informationen bei Dr. Stefan Wilm, Institut für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, 02032/926-741, stefan.wilm@uni-wh.de

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Kay Gropp Uni Witten/Herdecke

Weitere Informationen:

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