Trend zu Tariftreueregelungen – Wie geht es weiter?

Acht von 16 Bundesländern haben Tariftreueregelungen, zwei weitere wollten in Kürze nachziehen. Ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes hat den Trend zu Tariftreuegesetzen gestützt, der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellt ihn in Frage.

Mit womöglich gravierenden Folgen, zeigt eine aktuelle Analyse in der neuen Ausgabe der WSI Mitteilungen. Sollte es nicht gelingen, eine europarechtskonforme Absicherung von Tariftreueregelungen zu erreichen, drohe ein „rigoroser Lohnkostenwettbewerb“ um öffentliche Aufträge, der das deutsche Tarifsystem weiter schwächen würde, schreiben Dr. Thorsten Schulten, Tarifexperte im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, und Michael Pawicki.

Um den Druck aufzufangen wäre nach Ansicht der Forscher die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns geeignet, sowie eine Reform, die die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen deutlich erleichtert.

Gut 360 Milliarden Euro geben die etwa 30 000 Vergabestellen pro Jahr aus. Als Einkäufer mit erheblicher Marktmacht beeinflusse der Staat das Tarifsystem zwangsläufig, so die Autoren. Wenn Vergabeordnungen – scheinbar neutral – primär auf den Preis einer Leistung abstellten, „würde der Staat selbst zur weiteren Erosion des Tarifvertragssystems beitragen, da er normalerweise gezwungen ist, das günstigste Angebot anzunehmen, und damit nicht-tarifgebundenen Unternehmen einen strukturellen Wettbewerbsvorteil einzuräumen“.

Tariftreueregelungen versuchten diesen Effekt umzukehren, indem sie die Vergabe an die Einhaltung von örtlichen Tarifnormen binden. Dabei setze der Verweis auf Tarifverträge mit ihren differenzierten Strukturen nicht nur eine absolute Untergrenze, so WSI-Forscher Schulten. Er garantiere zudem jedem Beschäftigten eine Bezahlung nach Tarif abhängig von Tätigkeit und Qualifikation. Für die öffentlichen Auftraggeber bedeute das zwar Mehrkosten. Orientiere sich der Staat aber nur am günstigsten Preis, müsse er womöglich an anderer Stelle mehr Geld ausgeben, gibt Schulten zu bedenken. Etwa dadurch, dass Beschäftigte von Billiganbietern mit öffentlichen Aufträgen so wenig verdienen, dass sie ergänzende Sozialleistungen beziehen müssen.

Die meisten westdeutschen Bundesländer, SPD- wie unionsregierte, haben seit 1999 Tariftreuegesetze eingeführt. Auf Berlin folgten zwischen 2000 und 2004 Bayern, das Saarland, Niedersachsen, Bremen, Schleswig-Holstein und Hamburg. 2007 kam Hessen dazu. Rheinland-Pfalz hat für diesen Sommer ein Gesetz angekündigt, die Große Koalition in Mecklenburg-Vorpommern denkt darüber nach. Damit würde sich das West-Ost-Gefälle etwas abschwächen, das die Forscher beobachten. Bislang hatte lediglich ein Ost-Bundesland kurzzeitig eine Tariftreue-Vorschrift: Sachsen-Anhalt. Nach einem Regierungswechsel hob die CDU-FDP-Koalition die Regelung wieder auf. Das Gleiche passierte in Nordrhein-Westfalen. Ein Entwurf der rot-grünen Bundesregierung für ein bundesweites Tariftreuegesetz scheiterte 2002 am Bundesrat.

In ihrem Geltungsbereich unterscheiden sich die Landesgesetze teilweise erheblich, zeigt die Detailanalyse: Während sich die älteren Regelungen auf Bauleistungen und den ÖPNV beschränken, beziehen die neueren auch weitere Branchen wie die Abfallentsorgung, die Gebäudereinigung oder das Bewachungsgewerbe mit ein. Am weitesten vorangeschritten ist dieser Trend beim kürzlich novellierten Tariftreuegesetz für Berlin, das für sämtliche öffentlichen Aufträge gelten soll. Berlin ist außerdem das erste Bundesland, das seine Vergaberegelung mit einer Mindestlohnvorschrift gekoppelt hat: Die beauftragten Unternehmen müssen sich verpflichten, ihren Beschäftigten – ohne Auszubildende – mindestens 7,50 Euro in der Stunde zu zahlen. Die Einhaltung der Tariftreueregelungen kontrolliert wiederum das Land Hamburg besonders intensiv: Eine zehnköpfige Ermittlergruppe überprüft, ob die Bestimmungen eingehalten werden.

Dass Tariftreueregelungen in den vergangenen Jahren Konjunktur hatten, führt Experte Schulten auch auf die rechtliche Absicherung durch ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Juli 2006 zurück. Es erklärte das Berliner Tariftreuegesetz für verfassungskonform, weil der Gesetzgeber damit legitime Ziele verfolge. Dazu zählten die Richter etwa die Verhinderung eines Verdrängungswettbewerbs über die Lohnkosten, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Entlastung der sozialen Sicherungssysteme. Auch „die Unterstützung des Tarifvertragssystems als Mittel zur Sicherung sozialer Standards“ führten sie auf. Die Europäische Vergaberichtlinie weist ebenfalls ausdrücklich darauf hin, dass öffentliche Auftraggeber zusätzliche Bedingungen für die Ausführung des Auftrags vorschreiben können. Etwa „soziale und umweltbezogene Aspekte“, zitiert Schulten.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied jedoch Anfang April, die Tariftreueregelung im niedersächsischen Vergaberecht sei mit der europäischen Dienstleistungsfreiheit nicht vereinbar. Zentrales Argument des Gerichts: Das Land hätte Unternehmen aus anderen EU-Staaten die Einhaltung des örtlichen Tarifs nur vorschreiben dürfen, wenn er für alle gelte, also durch eine staatliche Allgemeinverbindlichkeitserklärung.

Nach dem überraschenden Urteil nennt WSI-Forscher Schulten die Zukunft der Tariftreueregelungen „mehr als ungewiss“. Die Bundesregierung könne zwar versuchen, im Rahmen der aktuell anstehenden Revision des deutschen Vergabegesetzes doch noch einen europarechtskonformen Weg zu finden, um Tariftreueregelungen abzusichern. Zudem hätten verschiedene Europaparlamentarier angekündigt, auf europäischer Ebene nach einer Lösung zu suchen, sagt der Wissenschaftler. Doch sollte das nicht gelingen, würde der Staat das Tarifvertragssystem nicht stabilisieren, sondern – in vielen Bundesländern wider Willen – selbst noch zu seiner weiteren Erosion beitragen.

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