Grenze zwischen Vollzeit und Teilzeit muss fallen

Geringfügige Beschäftigung wird Auslaufmodell – Institut Arbeit und Technik untersuchte Erwerbs- und Arbeitszeitwünsche in 16 Ländern: „Wie die Europäer arbeiten wollen…“

Die Grenzen zwischen Voll- und Teilzeitarbeit müssen durchlässiger werden, damit die Europäer arbeiten können, wie sie eigentlich wollen. „Wahlarbeitszeiten“ unterhalb des heutigen Vollzeitstandards sollten zur Normalität werden, wie in den Niederlanden muss jeder Beschäftigte das gesetzlich verbriefte Recht haben, seine Arbeitszeit zu ändern, fordert der Arbeitsmarktexperte Prof. Dr. Gerhard Bosch, Vizepräsident des Instituts Arbeit und Technik (IAT/Gelsenkirchen). Das folgt aus einer Studie des IAT zu den tatsächlichen und gewünschten Arbeitszeiten in Europa, die jetzt erschienen ist.

Im Rahmen der im Auftrag der Europäischen Stiftung für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in Dublin durchgeführten repräsentativen Befragung in den 15 EU-Mitgliedsstaaten und Norwegen wurden die Erwerbswünsche und Arbeitszeitpräferenzen empirisch erhoben. Die Studie zeigt eine hohe Übereinstimmung der Wünsche von Arbeitnehmern in den 16 europäischen Ländern, so dass eine europäische Beschäftigungs- und Arbeitspolitik sinnvoll und machbar erscheint.

39 Stunden pro Woche arbeitet im Durchschnitt jeder Erwerbstätige in Europa. Viel wollen jedoch weniger arbeiten – eine Arbeitszeitverkürzung um 4,5 auf 34,5 Stunden ist Wunsch der Europäer. Gleichzeitig müsste die Beschäftigungsquote steigen, Arbeitszeit zwischen Beschäftigten und Nicht-Erwerbstätigen umverteilt werden, wenn die Wünsche wahr werden sollen.

Hinter den Durchschnittzahlen stehen sehr unterschiedliche Entwicklungen: Viele Männer wünschen sich weniger Überstunden, ein Teil vollzeitarbeitender Frauen will Teilzeit arbeiten, viele in geringfügiger Beschäftigung dagegen ihre Arbeitszeit auf 25 bis 34 Stunden ausweiten. „Geringfügige Jobs sind ein Auslaufmodell, nimmt man die Wünsche ernst“, so Bosch. Das Interesse der Europäer an „Sabbaticals“ ist groß. 57 Prozent fänden es nützlich, ihre Erwerbstätigkeit zeitweilig für eine längere Reise oder Bildungsaktivitäten zu unterbrechen, sofern die Rückkehr an den alten Arbeitsplatz gewährleistet ist. 38 Prozent der Interessierten würden sich sogar ohne Einkommensausgleich freistellen lassen.

Insgesamt wollen die Beschäftigten kürzer arbeiten, aber viele der heute Nichtbeschäftigten – darunter vor allem Frauen – wollen künftig erwerbstätig sein und das nicht nur in prekären Arbeitsverhältnissen. Die Beschäftigungsquote (Anteil der Beschäftigten an allen Personen im erwerbsfähigen Alter von 16 bis 65) in Europa müsste von heute 63 Prozent um 11 Prozentpunkte auf 74 Prozent steigen und würde damit das Niveau in den USA allerdings ohne die dort so langen Arbeitszeiten erreichen. Da die meisten Beschäftigten kürzere Arbeitszeiten wünschen, wäre das europäische Modell durch eine hohe Beteiligung am Erwerbsleben mit kurzen individuellen Arbeitszeiten gekennzeichnet. Durch eine bessere öffentliche Betreuung kleiner Kinder und Ganztagsschulen müssen die tatsächlichen Wahlmöglichkeiten berufstätiger Eltern verbessert werden. In Deutschland und in Südeuropa bestehen hier die größten Defizite.

Die Anforderungen an die Arbeitszeitpolitik sind in allen EU-Ländern ähnlich: Wunsch sind tendenziell kürzere, aber auch differenziertere Wochenarbeitszeiten, die zudem im Verlauf des Erwerbslebens variieren. „Voraussetzung für die Umsetzung der Arbeitszeitwünsche ist eine flexiblere Organisation der Arbeit. Mehr als bisher müssen die Unternehmen Lösungen für neue Arbeitszeitmodelle entwickeln“, fordert Prof. Bosch.

Bielenski, Harald / Bosch, Gerhard / Wagner, Alexandra, 2002: Wie die Europäer arbeiten wollen: Erwerbs- und Arbeitszeitwünsche in 16 Ländern. Frankfurt: Campus-Verl. ISBN 3-593-37162-6

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