Mitten ins Herz

Die Aufnahme zeigt menschliche Herzmuskelzellen, die aus induzierten pluripotenten Stammzellen entstanden sind. Sebastian Diecke, MDC

Dass Herzensangelegenheiten heikel sein können, musste wohl jeder Mensch schon einmal feststellen. Unseren Herzschlag dagegen halten wir für selbstverständlich. „Dabei wird es da erst richtig kompliziert“, sagt Professor Norbert Hübner, der Leiter der Arbeitsgruppe „Genetik und Genomik kardiovaskulärer Erkrankungen“ am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC).

Gemeinsam mit Jonathan Seidman, Bugher Professor für Kardiovaskuläre Genetik an der Harvard Medical School, hat er ein Team von 13 weltweit führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland, Großbritannien und den USA zusammengestellt, die das menschliche Herz Zelle für Zelle verstehen wollen.

Ihr Projekt gehört zur internationalen Initiative Human Cell Atlas, die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geleitet wird. Die Chan Zuckerberg Initiative (CZI) fördert das Vorhaben als CZI Seed Network für den Human Cell Atlas in den nächsten drei Jahren mit knapp vier Millionen Dollar. Insgesamt finanziert die amerikanische philanthropische Organisation 38 solcher Netzwerke zu verschiedenen Geweben und Organen, gab sie am Freitag bekannt.

„Auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten“

„Die weltweiten Arbeiten am Human Cell Atlas sind ein Vorbild. Sie zeigen, was erreicht werden kann, wenn Expertinnen und Experten aus allen wissenschaftlichen Feldern und Zeitzonen auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten“, sagte Professorin Cori Bargmann, wissenschaftliche Leiterin der CZI. „Wir freuen uns, mit den Zuschüssen für die CZI Seed Networks weitere interdisziplinäre Kooperationen zu unterstützen und aufzubauen. Sie werden den Fortschritt zu einem ersten Entwurf des Human Cell Atlas vorantreiben.“

In vielen Lehrbüchern steht noch immer, dass der menschliche Körper aus 200 bis 300 Zelltypen besteht. Tatsächlich ist diese Zahl erheblich höher – und viele sind bisher wenig oder gar nicht erforscht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die seit Ende 2016 am Human Cell Atlas arbeiten, wollen das ändern. Mithilfe neuartiger Technologien wie der Einzelzellsequenzierung kartieren sie die Vielfalt der Zellen. Sie dokumentieren, welche Gene gerade aktiv oder stillgelegt sind, welche Zellzustände es gibt und welcher Zelltyp wofür zuständig ist, wie die Zellen Gewebe formen und wie sie sich im Laufe eines Lebens wandeln können.

Dramatische Druckunterschiede

Wie wichtig es dabei ist, gleichzeitig die räumliche Anordnung zu rekonstruieren, zeigt das Herz. Damit das Blut Sauerstoff in jeden noch so abgelegenen Winkel des Körpers transportieren kann, wird es aus der linken Herzkammer mit Macht in die Aorta und somit in den großen Kreislauf gepumpt. Kommt es dagegen beladen mit Kohlendioxid wieder im Herzen an, muss es aus der rechten Kammer mit 100 Mal geringerem Druck durch die Lungenschlagader in die Lunge gelangen.

„Sonst kommt es zu Lungenhochdruck und das ist – wie jede Fehlfunktion des Herzens – über kurz oder lang lebensgefährlich“, sagt Hübner. Die dramatischen Druckunterschiede im Herzen beeinflussen zum Beispiel die Entwicklung des Muskels, die Kardiomyozyten müssen sich ihrer Umgebung anpassen: „Wir wissen bereits von einzelnen Genen, dass sie durch die Biomechanik an- und abgeschaltet werden. Das ist einer der Punkte, die wir jetzt umfassend untersuchen wollen.“ Die Technologien dafür entwickelt die Arbeitsgruppe um Professor Nikolaus Rajewsky, Direktor des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie am MDC.

Das Seed-Network-Team wird aus zehn weiblichen und zehn männlichen Spenderherzen jeweils an sechs genau definierten Stellen Proben entnehmen, um zunächst die Variabilität des gesunden Herzens und seiner Zellpopulationen zu skizzieren. Welche Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt es? Welche Abweichung zeigt einfach, dass jeder Mensch verschieden ist und welche, dass die Zellen unter Stress stehen? „Bevor wir zum kranken Herzen kommen und erklären können, warum bestimmte Herzerkrankungen bei Frauen häufiger vorkommen als bei Männern und umgekehrt, brauchen wir eine Referenz“, sagt Hübner. „Das ist ähnlich wie beim Humangenomprojekt. Unser Netzwerk macht natürlich nur einen Anfang, aber grobe Raster werden wir bereits erkennen.“

Vorarbeit aus dem Pilotprojekt

Die Methoden und Protokolle der Einzelzellanalyse passen allerdings nicht wie eine Schablone auf alle Gewebe und Organe. Jedes hat eine eigene Konsistenz, eine andere extrazelluläre Matrix oder die Zellen sind anders aufgebaut. Die Zellpopulationen im Herzen sind besonders unterschiedlich – von den sehr großen Herzmuskelzellen, die etwa 40 Prozent des Gewebes ausmachen, bis hin zu Bindegewebszellen, Nervenzellen oder Immunzellen.

„Das Herz besteht aus einer Vielfalt an Zellen. Kardiomyozyten tragen zur Pumpfunktion des Herzens sowie zu seinem intrinsischen elektrischen System bei, das die rhythmische Kontraktion und Entspannung aktiviert. Andere Zellen bilden eine Reihe von Ventilen, die einen gerichteten Blutfluss ermöglichen. Außerdem gibt es eine große Bandbreite an unterstützenden Zellen“, sagt Seidman. „Wir wissen wenig darüber, wie die unterschiedlichen molekularen Eigenschaften jeder dieser Zellen ihre hochspezialisierten Funktionen ermöglichen.“

In einer einjährigen Pilotphase haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daher zunächst die Einzelzellsequenzierung für das Herz etabliert, sodass sie inzwischen verlässliche Ergebnisse erzielen. „Wir haben uns herangetastet – unter anderem mit Versuchen an Mäuseherzen“, sagt Hübner.

Das Seed Network arbeitet nun mit dem wertvollen menschlichen Gewebe. Eine Säule des Projekts ist daher die Kooperation mit großen klinischen Zentren. „In sehr seltenen Fällen besteht dort die Möglichkeit, Herzen für die Forschung zu bekommen – etwa wenn es keinem Kranken helfen konnte oder der bzw. die Verstorbene verfügt hat, dass nur bestimmte Organe einem anderen Menschen transplantiert werden dürfen“, sagt Hübner.

Eine weitere Säule ist die Datenanalyse. Die Ergebnisse sollen auf verschiedenen Ebenen integriert werden: dem der Zellzustände, der Zelltypen, des Gewebes und des ganzen Organs. Außerdem wird das Team sowohl ganze Zellen als auch Zellkerne verwenden. „Das kann einen Algorithmus schnell durcheinanderbringen. Deshalb sind wir sehr froh, dass wir superkompetente Bioinformatiker wie die Gruppen vom Helmholtz Zentrum München dabeihaben“, sagt Hübner.

Viel mehr als eine Pumpe

Er freut sich auf die Zusammenarbeit. Die Chan Zuckerberg Initiative habe ein Instrument wirklich multinationaler Förderung geschaffen, das auf wissenschaftliche Exzellenz und Kollaboration ausgerichtet ist, sagt Hübner. „So können sich weltweit Leute finden, die ein gemeinsames Interesse haben und führend auf ihrem jeweiligen Gebiet sind.“ In dem Seed Network werden einerseits lange bestehende Kooperationen wie mit dem Imperial College London oder der University Standford weitergeführt. Andererseits sind neue Partner hinzugekommen.

„Wir haben sehr gute Erfahrungen mit der Förderung gemacht. Über diesen Austausch ist zum Beispiel eine Kooperation mit der University von Chicago und mit dem Labor von Sarah Teichmann entstanden.“ Sie leitet den Bereich Zellgenetik am Wellcome Sanger Institute in Hinxton bei Cambridge und Co-Chair des Organisationskomitees des Human Cell Atlas.

„Die Human-Cell-Atlas-Inititave zielt darauf ab, jeden Zelltyp im menschlichen Körper zu kartieren, und wir freuen uns, dass CZI diese neuen Seed-Network-Projekte finanziert. Neben der Unterstützung des Herzprojektes, das es uns ermöglicht, die Zellen zu verstehen, aus denen das menschliche Herz besteht, werden 37 weitere nationale und internationale Kooperationen unterstützt, um Daten zu einzelnen Geweben und Organen zu generieren“, sagt die Professorin Sarah Teichmann.

In dem Seed Network zum Herzen wollen die Forscherinnen und Forscher nun das „System Herz“ einschließlich der Gefäße erfassen. Sie interessiert nicht nur die Vielfalt der Zelltypen, sondern auch welche Zellen Nachbarn sind und wie sie über Hormone oder andere Botenstoffe, über elektrochemische oder biophysikalische Signale in Netzwerken miteinander kommunizieren. „Das Herz ist viel mehr als nur eine Pumpe“, sagt Hübner. „Und es muss ein Leben lang fehlerfrei funktionieren.“ 100.000 Herzschläge Tag für Tag.

Kooperationspartner

Norbert Hübner, MDC, Ko-Koordinator des Seed Networks
Jonathan Seidman, Harvard Medical School in Boston, Ko-Koordinator des Seed Networks
Christine Seidman, Brigham and Women’s Hospital in Boston
Sarah Teichmann, Wellcome Sanger Institute in Hinxton
Lars Steinmetz, Stanford University
Anindita Basu, University of Chicago
Sebastian Pott, University of Chicago
Nikolaus Rajewsky, Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des MDC
Michela Noseda, Imperial College London
Stuart Cook, Imperial College London
Dominic Grün, Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg
Matthias Heinig, Helmholtz Zentrum München
Fabian Theis, Helmholtz Zentrum München

Über die Chan Zuckerberg Initiative

Die 2015 von Dr. Priscilla Chan und Mark Zuckerberg gegründete „Chan Zuckerberg Initiative“ (CZI) ist eine neue Art von Philanthropie. Sie nutzt Technologien, um einige der größten Herausforderungen der Welt zu lösen – wie Krankheiten zu bekämpfen, die Bildung zu verbessern und das Strafrechtssystem zu reformieren. In den drei Kernbereichen der Initiative, Wissenschaft, Bildung sowie Justiz und Chancen, verbindet CZI Technik mit Fördermitteln, wirkungsorientierten Investitionen sowie Politik- und Lobbyarbeit, um eine integrative, gerechte und gesunde Zukunft für alle aufzubauen. Weitere Informationen gibt es unter www.chanzuckerberg.com.

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) wurde 1992 in Berlin gegründet. Es ist nach dem deutsch-amerikanischen Physiker Max Delbrück benannt, dem 1969 der Nobelpreis für Physiologie und Medizin verliehen wurde. Aufgabe des MDC ist die Erforschung molekularer Mechanismen, um die Ursachen von Krankheiten zu verstehen und sie besser zu diagnostizieren, verhüten und wirksam bekämpfen zu können. Dabei kooperiert das MDC mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin und dem Berlin Institute of Health (BIH) sowie mit nationalen Partnern, z.B. dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DHZK), und zahlreichen internationalen Forschungseinrichtungen. Am MDC arbeiten mehr als 1.600 Beschäftigte und Gäste aus nahezu 60 Ländern; davon sind fast 1.300 in der Wissenschaft tätig. Es wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Berlin finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren. www.mdc-berlin.de

Professor Norbert Hübner
Leiter der Arbeitsgruppe „Genetik und Genomik kardiovaskulärer Erkrankungen“
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC)
nhuebner@mdc-berlin.de

Professor Jonathan Seidman
Henrietta B. and Frederick H. Bugher Professor für kardiovaskuläre Genetik
Abteilung für Genetik
Harvard Medical School
seidman@genetics.med.harvard.edu

https://chanzuckerberg.com/science/programs-resources/humancellatlas/seednetwork…
https://www.mdc-berlin.de/de/news/press/herzzellen-ihre-geheimnisse-entlocken
https://www.mdc-berlin.de/de/news/press/mdc-bekommt-foerderung-fuer-mitarbeit-am…

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Jana Schlütter Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft

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