Wenn die Umwelt Druck macht – Natürliche Selektion schafft neue Gene

Weil das neue Gen für den Erhalt und die Funktion des Organismus nicht nötig ist, wirken sich Veränderungen darin oft nicht unmittelbar aus. Das neue Gen verändert sich in der Regel deshalb schneller als die ursprünglich identische Vorlage, bis sich die Duplikate grundlegend unterscheiden – und auch verschiedene Funktionen vermitteln.

Die beiden Evolutionsbiologen Professor Wolfgang Stephan und Dr. Steffen Beisswanger der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München konnten nun zeigen, dass ein sehr wichtiger Mechanismus der Evolution eine unerwartet große Rolle bei dieser funktionellen Differenzierung spielt. Wie in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences USA (PNAS)“ berichtet, ist damit zum ersten Mal die Bedeutung der natürlichen Selektion in diesem Zusammenhang nachgewiesen. Darunter versteht man den Druck, den die Umwelt auf Individuen ausübt, und der über deren genetische Anpassungsfähigkeit – und letztlich den Fortpflanzungserfolg – vermittelt wird.

Umso überraschender war, dass das in der vorliegenden Studie untersuchte Gen zwar von dem neu gefundenen Mechanismus betroffen ist, aber wohl keinen direkten Umweltbezug hat.

„Im Laufe der Evolution haben sich zunehmend komplexere Lebensformen entwickelt“, berichtet Stephan. „Dies war nur möglich, weil auch Gene mit neuen Funktionen entstanden sind. Und eine der zentralen Aufgaben für uns Evolutionsgenetiker besteht darin, diesen Prozess der funktionellen Differenzierung zu erklären.“ Nach der herrschenden Lehrmeinung entstehen neue Gene in der Regel durch die Duplikation eines bereits vorhandenen Gens, wobei sich die beiden Kopien dann zunehmend in Bezug auf ihren Aufbau und die Funktion voneinander entfernen.

Dies kann dazu führen, dass eines der beiden Gene die ursprüngliche, das andere aber eine neue Funktion annimmt. Wie dies genau vonstatten geht, war bislang allerdings weitgehend unklar. Die Evolution von duplizierten Genen ist nämlich dank der so genannten Genkonversion gekoppelt.

Dabei werden Sequenzinformationen im genetischen Material ausgetauscht, in diesem Fall zwischen den beiden Duplikaten. Dadurch aber können beispielsweise die Mutationen eines der beiden Gene auf das andere übertragen werden – die Identität der Kopien bleibt so also tendenziell erhalten.

„Deshalb stellt sich die Frage, wie schnell sich die Duplikate auseinanderentwickeln müssen, um dem Prozess der Genkonversion zu entgehen“, sagt Beisswanger. „Wir wollten zudem wissen, welcher Mechanismus dieses Entkommen ermöglicht. Letztlich haben unsere Ergebnisse dann gezeigt, dass positive natürliche Selektion den Prozess der funktionellen Differenzierung zweier Genkopien ermöglicht, wenn sie sehr stark ist – und wenn gleichzeitig die Genkonversion zwischen den Duplikaten unterdrückt wird.

Stephan und Beisswanger untersuchten in der vorliegenden Arbeit zwei benachbarte Gene der Taufliege Drosophila melanogaster, die durch Duplikation entstanden waren: ph-d (distal) und ph-p (proximal), die zusammen den Genort oder Locus ph (für „polyhomeotic“) bilden. „Die Duplizierung von ph ist vor mindestens 25 bis 30 Millionen Jahren erfolgt“, berichtet Stephan. „Trotzdem sind sich die beiden Kopien strukturell und funktionell noch sehr ähnlich, was wohl auf Genkonversion zurückzuführen ist.“ Dennoch zeigen sich Unterschiede in der Regulation der beiden Gene – was ein erstes funktionelles Auseinanderdriften anzeigt.

Die beiden Evolutionsbiologen analysierten deshalb die Sequenz der Duplikate auf der Suche nach eindeutigen Anzeichen für einen starken positiven Selektionsdruck. Ein Beispiel für einen derartigen – meist kurzlebigen und damit schwer nachweisbaren – „selective sweep“ ist eine Veränderung im Genom mit positiven Auswirkungen, die erst vor kurzem fixiert wurde. Typisch für einen „selective sweep“ ist unter anderem eine geringe Variation an der betreffenden Stelle im Genom.

Tatsächlich fanden die Wissenschaftler entsprechende Merkmale im Bereich des ph-Genorts. Es ließ sich sogar noch weiter eingrenzen, wo genau der Selektionsdruck vermutlich am stärksten wirkt: Dieser Bereich ist im Gen ph-p. „Die Frage ist nun, wie es zur Neofunktionalisierung kommen kann, obwohl die Genkonversion in diesem Bereich im Laufe der Evolution auch gewirkt hat,“ so Stephan. „Wir vermuten, dass dieser Mechanismus im betroffenen Bereich inaktiviert wurde, weil zu schnell zu viele Veränderungen aufgetreten sind, bis eine Genkonversion dann unmöglich wurde.“

Bisher wurde die natürliche Selektion als Helfer der Neofunktionalisierung wegen des Gegenspielers Genkonversion nur theoretisch für möglich gehalten. „Unser Resultat ist aber auch aus einem anderen Grund überraschend“, ergänzt Beisswanger. „Natürliche Selektion bedeutet schließlich, dass Individuen, die mehr Nachkommen als ihre Artgenossen produzieren, ihre Genvarianten erfolgreich weitergeben.

Diese Fitness wird vor allem über die individuelle Fähigkeit zur Anpassung an die Umwelt vermittelt. Entsprechend hatten wir erwartet, die selective sweeps vor allem bei Genen zu finden, die an der Anpassung der Organismen direkt beteiligt sind. Das können etwa Gene sein, die Umweltgifte entschärfen oder die Sinneswahrnehmung beeinflussen. Das von uns untersuchte Gen hat aber wahrscheinlich keinen direkten Umweltbezug, sondern reguliert die Aktivität von hunderten anderer Gene. Möglicherweise also spielt die natürliche Selektion bei der Neofunktionalisierung sogar eine noch größere Rolle als vermutet.“ (suwe)

Publikation:
„Evidence that strong positive selection drives neofunctionalization in the tandemly duplicated polyhomeotic genes in Drosophila“,
Steffen Beisswanger und Wolfgang Stephan,
PNAS, Bd. 105, S. 5447-52, 8. April 2008
Ansprechpartner:
Professor Dr. Wolfgang Stephan
Biozentrum der LMU
Tel.: 089 / 2180 – 74102
Fax: 089 / 2180 – 74104
E-Mail: stephan@zi.biologie.uni-muenchen.de

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Luise Dirscherl idw

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