Wissenschaftliche Expedition auf dem sibirischen Yenisei

Der Fluss Yenisei im fernen Sibirien hat es in sich: Seine Sedimente enthalten Radioaktivität. Auf zwei wissenschaftlichen Expeditionen erforschte Professor Dr. Eckehard Klemt von der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten die Verteilung der radioaktiven Stoffe. Jetzt erhielt der oberschwäbische Strahlenmessexperte Post aus Russland. Der Inhalt: getrocknete Sedimentproben, die Klemt auf seiner zweiten Yenisei-Expedition im September 2001 gesammelt hatte. Jetzt können die neuen, langwierigen Versuche im Weingartener Strahlenmesslabor beginnen.

Huckleberry Finn, amerikanischer Ausreißer auf dem Mississippi, würde den Yenisei lieben, einen mächtigen Fluss, der sich Tausende von Kilometern durch die sibirische Taiga windet. Im Mittellauf ist das Gewässer mehr als zwei Kilometer breit; Skandinavienreisende erinnert es an die finnische Seenplatte. Dazu passen die Kiefern und Birken, die überall am Ufer hoch wachsen. Hätte der Prototyp aller Lausbuben, Huckleberry Finn, einen Fisch gefangen, dann würde er ihn vermutlich auf einer der vielen Inseln überm Feuer braten.

Leider ist die russische Idylle nur scheinbar. Gerade die Inseln, die Urlaubsgefühle aufkommen lassen, haben es in sich, genauer: um sich. In ihrem Schutz haben sich Sedimente abgelagert, deren hochbrisanten Bestandteilen Professor Dr. Eckehard Klemt im September 2001 nachspürte. Klemt, Strahlenmessexperte im Studiengang Physikalische Technik der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten, untersuchte während einer einwöchigen Expedition auf dem Yenisei die Radioaktivität, die sich im Untergrund des Flusses abgelagert hat.

Klemts wissenschaftliche Exkursion begann in Krasnoyarsk, fünf Flugstunden östlich von Moskau. Unweit der Millionenstadt liegt eine sogenannte verbotene Stadt, erst vor kurzem auf der Landkarte verzeichnet. Geschätzte 120.000 Menschen leben in der Forschungsstadt, deren drei Reaktoren der Produktion von waffenfähigem Plutonium dienten. 1958 wurde dort der erste Atommeiler gebaut. „Der Yenisei“, berichtet Eckehard Klemt, „floss jahrzehntelang direkt durch den ältesten Reaktor.“ Aufbewahrt wurden radioaktive Abwässer in Teichen direkt neben dem Fluss, mindestens zweimal wurde es bei Überschwemmungen großflächig ausgespült mit schlimmen Folgen für die Umwelt. Auch riesige Entfernungen schützen vor Radioaktivität nicht. Bereits 1972 hatte ein Forschungsschiff der damaligen UdSSR zweieinhalbtausend Kilometer nördlich in der Karasee radioaktive Zerfallsprodukte nachgewiesen.

Vor kurzer Zeit entdeckte ein Kollege Klemts von der Krasnoyarsker Akademie der Wissenschaften in der Umgebung „hot partikels“, also Kernbrennstoffteilchen, wie sie auch nach dem Reaktorunfall von Chernobyl in der 30-Meilen-Zone um den Reaktor niedergegangen waren. Vor 20 oder 30 Jahren, so vermutet Klemt, habe es mehrere Unfälle bei der Plutoniumproduktion gegeben. Auch heute noch ist die Forschungsstadt, die inzwischen immerhin einen Namen (Zheleznogorsk) trägt, hermetisch abgeriegelt. Kontakt zu den dortigen Wissenschaftlern gibt es zwar, Informationen über die Geschehnisse in der Vergangenheit aber nicht.

„Die Radioaktivität“, so Professor Klemt, „ist ungleichmäßig verteilt, nicht nur im Yenisei, sondern auch in den sogenannten Flood Plains.“ Unter Flood Plains versteht man die Überschwemmungsgebiete, die von den beiden großen Yenisei-Hochwassern von 1977 und 1988 am meisten betroffen waren.

Ein Schiff mit Kapitän, Schiffsjunge und Koch brachte Eckehard Klemt und fünf andere Wissenschaftler 600 Kilometer flussabwärts. Übernachtet wurde auf dem Boot oder in Hütten. Der Untergrund des schnell fließenden Yenisei besteht aus grobem Kies und Schotter. Radioaktive Teilchen finden sich deswegen nur im Schutz von Inseln, in seichten Buchten oder in Fluss-Seitenarmen. Manchmal mussten die Forscher einen ganzen Tag lang suchen, bis sie endlich auf Schichten von abgelagerten Schwebstoffen stießen.

1999 hatte Eckehard Klemt erstmals den Yenisei auf einer Länge von 250 Kilometern bereist. Geldgeber war damals wie auch heute das Laboratorium Spiez und damit die Schweizer Regierung. Seit sieben Jahren arbeitet das Strahlenmesslabor der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten nun schon mit ihrem Schweizer Partner zusammen. Die Schweiz unterhält in Spiez ein weltweit bekanntes Labor, in dem die Auswirkungen von A-, B- und C-Waffen untersucht werden. Auf ihrer ersten Yenisei-Expedition hatte Eckehard Klemt herausgefunden: Die höchste Radioaktivität steckt nicht an der Oberfläche, sondern in tieferen Schichten.

Ziel der Expedition des Jahres 2001 war es, noch tiefer vorzudringen. Um dies zu erreichen, wurde der Sedimentstecher weiterentwickelt. Darunter muss man sich ein langes Hohlrohr vorstellen, das an eine Metallstange geschweißt ist. Während vor zwei Jahren Sedimentkerne bis zu einer Tiefe von 40 Zentimetern gestochen werden konnten, waren es dieses Jahr 80 Zentimeter. Damit konnten die Forscher die Schwebstoffe bis zum steinernen Grund des Flussbettes beproben. Bei Schnelltests vor Ort hat sich wieder bestätigt: Je älter die Sedimente, um so mehr radioaktive Zerfallstoffe. Positiv betrachtet bedeutet das jedoch: Im Lauf der Jahre hat der Eintrag an Radioaktivität abgenommen.

Auf ihrer Expedition fanden Klemt, der Schweizer Dr. Stefan Röllin und russische Kollegen eine Reihe von hochgefährlichen Spalt- und Aktivierungsprodukten, die beim Betrieb eines Reaktors entstehen: Spaltprodukte entstehen direkt bei der Kernspaltung von Uran-235, Aktivierungsprodukte durch Anlagerung von Neutronen an Kernbrennstoff, Spaltprodukte oder den Reaktorbehälter. In höheren Konzentrationen treten auf:
Cäsium-137, das 1986 in Folge des Reaktorunfalls von Chernobyl auch über Süddeutschland niederging;
verschiedene Europium-Isotope. Anders als Cäsium-137 waren sie nach dem Unfall von Chernobyl in Westeuropa nicht vorhanden. Mit ihrer Hilfe können Altersbestimmungen durchgeführt werden. Dabei machen sich die Forscher die unterschiedlichen Halbwertszeiten dieser Isotope zunutze.
Americium-241, ein Zerfallsprodukt von Plutonium;
sowie Kobalt-60. Das nicht radioaktive Kobalt-59 ist Teil der Stahlhülle über dem Reaktor und sorgt dafür, dass der Stahl extrem belastbar ist. Wenn nun Neutronen in die Stahlhülle eindringen und auf Kobalt-59-Kerne treffen, werden die Neutronen absorbiert und wandeln diese Kerne in radioaktives Kobalt-60 um.

Derzeit werden im Strahlenmesslabor der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten Proben der beiden Yenisei-Expeditionen untersucht. Herausfinden wollen die Wissenschaftler beispielsweise, an welche Fraktionen der Sedimente die Radioaktivität gebunden ist. Ein Ergebnis ist, dass Cäsium-137 in den Sedimenten des Yenisei viel fester gebunden ist als in oberschwäbischen Seen, wenn auch die Konzentration nicht vergleichbar mit der im Yenisei ist.

Viele Forschergruppen aus der europäischen Union, berichtet Klemt, hätten bereits versucht, eine Expedition auf dem Yenisei zu starten. Alle seien sie letztendlich an der russischen Bürokratie gescheitert. „Wir sind die einzigen im Westen, die größere Probenmengen mitgebracht haben“, erläutert Klemt durchaus mit einem Anflug von Stolz. Realistisch fügt er hinzu: „Wir haben russische Kollegen vor Ort, die für uns alles organisieren.“

Was bringt die oberschwäbischen Forschungsergebnisse den Menschen vor Ort? „Unsere Aufgabe ist es nicht, das Gebiet zu sanieren“, sagt Klemt. „Wir versprechen uns wissenschaftliche Erkenntnisse.“ Diese führten aber dazu, dass die Bevölkerung in Sibirien wisse, der und der Abschnitt des Yenisei sei radioaktiv verschmutzt und jener Teil des Ufers sollte am besten abgetragen oder abgedeckt werden. Obwohl völlig unklar ist, wer dies bezahlen soll, bildet dieses Wissen die Grundlage jeglicher Sanierung.

Die Arbeit im Strahlenmesslabor ist wahre Detektivarbeit. Die Forscher versuchen, die Vergangenheit zu rekonstruieren und entwickeln neue Methoden der Datierung. Anders ausgedrückt: Sie versuchen, die radioaktiven Nuklide, die sie in den Sedimentschichten finden, Ereignissen wie etwa einem Unfall bei der Plutoniumproduktion zuzuordnen. Schritt für Schritt entstehen Modelle, die klären, wie sich künstliche radioaktive Nukleide in der Natur verhalten. Sollte es irgendwo auf der Welt noch einmal zu einer Atomkatastrophe kommen, wären mit Hilfe der Weingartener Modelle Voraussagen über die radioaktive Belastung von Wasser, Boden und Lebensmitteln möglich, die helfen, die Bevölkerung vor Schaden zu schützen.

Die Schweizer Geldgeber erhoffen sich darüber hinaus Antwort auf die Frage: Wie kann man die Produktion von Plutonium weit entfernt von der Ursprungsquelle feststellen. Dies ist von hoher, auch politischer Brisanz. „Möglicherweise“, so sagt Klemt, „können wir aufgrund unserer Forschungen im Yenisei einmal an anderen Orten der Welt nachweisen, ob versucht wurde, waffenfähiges Plutonium zu produzieren, indem wir beispielsweise in der Mündung eines Flusses, weit entfernt von der Produktionsstätte, Proben ziehen.“

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Dipl.-Journ. Tove Simpfendörfer idw

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