Antiferromagneten: Entgegen der Lehrmeinung für dissipationslose Nanoelektronik geeignet

Elektronen (graue Wellenpakete) in antiferromagnetischen (links) und nichtmagnetischen (Mitte) Kristallen bewegen sich entlang des angelegten elektrischen Stroms. Die Kombination von antiferromagnetischen und nichtmagnetischen Atomen (rechts) erzeugt eine überraschend transversale Hall-Bewegung des Elektrons. Im linken und rechten Bereich markieren die blauen und roten Schattierungen die positiven und negativen Magnetisierungsdichten.
Abb./©: Libor Šmejkal

Den gängigen Theorien zufolge unmöglich: Junger Physiker der JGU entdeckt Hall-Effekt in einem Antiferromagneten

Mitunter rufen Kombinationen verschiedener Dinge Effekte hervor, mit denen niemand rechnet: Etwa, wenn gänzlich neue Eigenschaften auftauchen, die die beiden kombinierten Teile nicht haben. Eine solche unerwartete Eigenschaft fand Dr. Libor Šmejkal von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Er kombinierte antiferromagnetische Stoffe mit unmagnetischen Atomen – und stellte fest, dass entgegen der Lehrmeinung ein Hall-Strom auftritt, was einzeln weder bei antiferromagnetischen noch bei unmagnetischen Stoffen der Fall ist.

Dies könnte vollkommen neue Potenziale für die Nanoelektronik bieten. Denn zum einen treten diese Materialkombinationen in der Natur sehr häufig auf – die Entdeckung hat daher das Potenzial, die wachsende Nachfrage in der konventionellen Magnetelektronik nach seltenen schweren Elementen umzukehren und stattdessen die Forschung und Anwendungen auf reichlich vorhandene Materialien zu lenken. Der Hall-Strom weist zudem eine geringe Energiedissipation auf.

Dies ist insbesondere wichtig vor dem Hintergrund, dass die Informationstechnologien zum größten Energieverbraucher bei den Industrien werden. Da die Materialien nach außen hin kein Magnetfeld aufweisen, also magnetisch unsichtbar sind, können sie sehr dicht gepackt werden und erlauben einen hohen Miniaturisierungsgrad von Nanoelektronik. Auch hinsichtlich der Geschwindigkeit punkten diese zuvor übersehenen Materialien: Sie ist um ein Vielfaches größer als bei den Ferromagneten, die Frequenzen könnten daher vom Gigahertz-Bereich in den Terahertz-Bereich verschoben werden.

Kurzum: Die Entdeckung hat einen besonderen Platz auf dem schnell wachsenden neuen Gebiet der antiferromagnetischen Magnetoelektronik, man spricht dabei auch von Spintronik. Die Ergebnisse veröffentlichte Libor Šmejkal mit seinen Kollegen von der JGU in einem in Science Advances veröffentlichten Artikel.

Was ist der Hall-Strom?

Um die Forschungsarbeit von Šmejkal zu verstehen, muss man zunächst beim Hall-Effekt anfangen. Legt man an herkömmliche nichtmagnetische Leiter wie Kupfer eine Spannung an, so fließt der Strom in die Richtung, die durch das elektrische Feld vorgegeben ist. Kommt jedoch ein externes Magnetfeld hinzu, biegt sich der Strom von der angelegten Richtung weg – es kommt also eine zusätzliche Querkomponente dazu, die als Hall-Strom bezeichnet wird.

Der Hall-Effekt wurde zur Charakterisierung von Halbleitern verwendet, die die moderne Siliziumelektronik prägten. Halls zweite Entdeckung: Auch eine interne Magnetisierung eines ferromagnetischen Leiters wie Eisen kann zu einer solchen Querstromablenkung führen – was den Hall-Effekt auch zu einem der Eckpfeiler der Magnetoelektronik machte, einem breiten Feld, das von Sensor- bis zu Speichertechnologien reicht.

Die Entdeckung von Antiferromagneten, die in der Natur viel häufiger vorkommen als Ferromagneten, wird Louis Néel zugeschrieben. In diesen sind die magnetischen Momente der Atome entgegengesetzt ausgerichtet. Die Effekte, die in Ferromagneten beobachtet werden, heben sich daher gegenseitig auf – so auch der Hall-Strom. Die Antiferromagneten verhalten sich nach außen hin also wie die üblichen nichtmagnetischen Leiter und sind damit für die Magnetoelektronik nicht anwendbar.

Ungewöhnlicher Effekt: Hall-Strom in Antiferromagneten

Es ist seit Jahrzehnten bekannt, dass nichtmagnetische und antiferromagnetische Kristalle keine Hall-Ströme aufweisen. Libor Šmejkal fand einen Kristall mit einer faszinierenden Kombination von nichtmagnetischen und antiferromagnetischen Atomen, die einen starken Hall-Strom erzeugen. Bemerkenswerterweise sind Kristalle mit antiferromagnetischen und nichtmagnetischen Atomen keine Seltenheit in der Natur, sondern weit verbreitet.

„Um mit der konventionellen wissenschaftlichen Weisheit zu brechen, sind außergewöhnliche Talente und Fähigkeiten erforderlich“, sagt der Direktor der Forschungsgruppe Prof. Dr. Jairo Sinova. „Dies ist auch bei Libor Šmejkal der Fall: Er ist ein außergewöhnliches Physik-Talent, das als frisch promovierter Absolvent bereits den Ruf einer international führenden Persönlichkeit auf seinem Gebiet genießt.“ Libor Šmejkal hat seine Doktorarbeit vor einigen Monaten abgeschlossen, Vorträge auf internationalen Konferenzen gehalten und seine Arbeiten in hochrangigen Zeitschriften publiziert. Unmittelbar nach der Promotion übernahm Libor Šmejkal die Position eines unabhängigen Teamleiters in der Gruppe INSPIRE an der JGU.

Bildmaterial:
https://download.uni-mainz.de/presse/08_physik_komet_hall_strom.jpg
Elektronen (graue Wellenpakete) in antiferromagnetischen (links) und nichtmagnetischen (Mitte) Kristallen bewegen sich entlang des angelegten elektrischen Stroms. Die Kombination von antiferromagnetischen und nichtmagnetischen Atomen (rechts) erzeugt eine überraschend transversale Hall-Bewegung des Elektrons. Im linken und rechten Bereich markieren die blauen und roten Schattierungen die positiven und negativen Magnetisierungsdichten.
Abb./©: Libor Šmejkal

Weiterführende Links:
https://www.sinova-group.physik.uni-mainz.de/ – Interdisciplinary Spintronics Research Group (INSPIRE)
https://www.spice.uni-mainz.de/ – Spin Phenomena Interdisciplinary Center (SPICE)

Lesen Sie mehr:
https://www.magazin.uni-mainz.de/9828_DEU_HTML.php – JGU-Magazin-Beitrag „‘Wir müssen raus aus unserer Komfortzone‘“ (18. Januar 2019)
https://www.uni-mainz.de/presse/76019.php – Pressemitteilung „Effekt der Spin-Bahn-Drehmomente im Kristall NiMnSb bei Raumtemperatur nachgewiesen“ (21.07.2016)
https://www.uni-mainz.de/presse/61696.php – Pressemitteilung „Internationales Forscherteam verwirklicht effizienten und verstellbaren Spin-Ladungs-Wandler aus Gallium-Arsenid“ (28.08.2014)

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Libor Šmejkal
INSPIRE Group
Institut für Physik
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
55099 Mainz
Tel. +49 6131 39-23644
E-Mail: lsmejkal@uni-mainz.de
https://www.sinova-group.physik.uni-mainz.de/team/libor-smejkal/

Originalpublikation:

Libor Šmejkal et al.
Crystal time-reversal symmetry breaking and spontaneous Hall effect in collinear antiferromagnets
Science Advances, 5. Juni 2020
DOI: 10.1126/sciadv.aaz8809
https://advances.sciencemag.org/content/6/23/eaaz8809.full

https://www.uni-mainz.de/

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