Die Rechnung geht auf

Blick über den Gletscher Kangilerngata Sermia (Westgrönland), dessen Front in der nordwestlichen Diskobucht den Ozean erreicht.
Mirko Scheinert, TU Dresden

Meeresspiegelanstieg und seine Ursachen neu beziffert.

Eine am 7.2.2022 veröffentlichte genaue Aufschlüsselung des globalen Meeresspiegelanstiegs in seine einzelnen Ursachen untermauert die Zuverlässigkeit unseres Wissens über gegenwärtige Meeresspiegeländerungen. Die von der Europäischen Weltraumagentur ESA finanzierte und von der TU Dresden geleitete Studie zeigt, dass die von Satelliten gemessene Entwicklung des Meeresspiegels von Monat zu Monat mit der Summe der einzeln ermittelten Meeresspiegelbeiträge übereinstimmt.

Seit dem Beginn genauer Satellitenbeobachtungen in den 1990er Jahren ist der globale mittlere Meeresspiegel um mehr als 3 Zentimeter pro Jahrzehnt gestiegen. Für gut ein Drittel des Anstiegs ist die thermische Ausdehnung des sich erwärmenden Meerwassers verantwortlich. Für die übrigen knapp zwei Drittel sorgen die Wassermassen, die dem Ozean hinzugefügt werden, vor allem durch das Schmelzen von Gletschern und Eisschilden. Dieses Schmelzen hat seit den 1990-er Jahren deutlich zugenommen, wodurch sich auch das Tempo des Meeresspiegelanstiegs erhöht hat. Eine Abnahme der an Land gespeicherten Wassermenge, insbesondere durch Grundwasserzehrung aufgrund von Wasserförderung, hat ebenfalls zum Meeresspiegelanstieg beigetragen.

Als eine Probe dafür, wie gut Wissenschaftler die am Meeresspiegelanstieg beteiligten Vorgänge verstehen, vergleichen sie den gemessenen Meeresspiegelanstieg mit der Summe aus den einzeln abgeschätzten Beiträgen der thermischen Ausdehnung des Ozeans und seines Massenzuwachses. Sie stellen also ein ‚Meeresspiegelbudget‘ auf. Den Massenzuwachs des Ozeans kann man ermitteln, indem man die Beiträge aus der Massenabnahme des Grönländischen Eisschildes, des Antarktischen Eisschildes und aller übrigen Gletscher weltweit sowie den Beitrag der Änderung kontinentaler Wasserspeicherung einzeln bestimmt. Der Massenzuwachs kann alternativ auch direkt von Satelliten gemessen werden, die kleinste Änderungen der Schwerkraft messen, wie sie durch eine Zu- oder Abnahme von Wasser- und Eismassen in einer bestimmten Region verursacht werden.

Die Europäische Weltraumagentur ESA stellt im Rahmen ihrer Climate Change Initiative (CCI) langfristige, globale Datenreihen von Klimavariablen bereit, die aus Messungen von Erdbeobachtungssatelliten gewonnen werden. Einige dieser Datenreihen stehen mit dem Meeresspiegel in Zusammenhang. Im Projekt „CCI Sea Level Budget Closure“ hat nun ein Konsortium aus zehn europäischen Forschungseinrichtungen diese Datenreihen gemeinsam mit Blick auf das Meeresspiegelbudget analysiert. Datensätze, die innerhalb von CCI nicht vorlagen, wurden speziell für diesen Zweck erstellt oder von anderen Quellen hinzugezogen.

Hintergründe zu Messmethoden und Modell-Berechnungen

Dichteänderungen des Ozeanwassers, und damit dessen thermische Ausdehnung, wurden mit Hilfe einer neuartigen Kombination von Temperatur- und Salzgehaltsmessungen des Argo-Treibbojen-Netzwerks mit aus Satellitendaten abgeleiteten Meeresoberflächentemperaturen bestimmt. Um Änderungen des Grönländischen und Antarktischen Eisschildes zu bestimmen, wurden sowohl Satellitenmessungen von Höhenänderungen der Oberfläche als auch Satellitenmessungen von Änderungen der Erdanziehungskraft herangezogen. Änderungen der Gletscher weltweit wurden durch ein globales Gletschermodell, gestützt durch Fernerkundungsdaten, ermittelt. Kontinentale Wasserspeicherungsänderungen wurden durch ein globales Hydrologie-Modell berechnet, dafür wurde dessen Erfassung der Grundwasserentnahme weiterentwickelt.

Von 1993 bis 2016 stieg der globale Meeresspiegel laut Satellitenmessungen im Mittel um 3,0 Millimeter pro Jahr (mm/Jahr). Der Beitrag thermischer Ausdehnung wird mit 1,1 mm/Jahr abgeschätzt. Das sind 38% des gemessenen Meeresspiegelanstiegs. Der Massenbeitrag wurde mit 1,7 mm/Jahr ermittelt (57% des gemessenen Anstiegs). Er enthält 0,6 mm/Jahr (21%) von den Gletschern außerhalb von Grönland und Antarktis, 0,6 mm/Jahr (20%) von Grönland, 0,2 mm/Jahr (6%) von der Antarktis und 0,3 mm/Jahr (10%) von der Abnahme der kontinentalen Wasserspeicherung. Im jüngeren Teilzeitraum von 2003 bis 2016 war der Meeresspiegelanstieg stärker (3,6 mm/Jahr), weil der Massenbeitrag zugenommen hat. Dieser betrug nun etwa 2,4 mm/Jahr und damit 66% des gesamten Meeresspiegelanstiegs, während der thermische Ausdehnungseffekt mit etwa gleichbleibenden 1,2 mm/Jahr nur noch 33% ausmachte. Die Ergebnisse stehen im Einklang mit anderen Studien der letzten Zeit. Durch die hier erfolgte Weiterentwicklungen von Methoden und Datensätzen gewinnen sie noch einmal an Zuverlässigkeit. Dafür sorgt nicht zuletzt, dass die erreichbaren Genauigkeiten für alle Teilgrößen nach einem einheitlichen Schema beziffert werden. Die sich daraus ergebende Restunsicherheit beläuft sich auf etwa 10 Prozent des Meeresspiegelanstiegs. Tatsächlich passen der gemessene Meeresspiegelanstieg und die Summe der Beiträge bis auf diese Restunsicherheit zusammen.

Aus der Studie ergibt sich weiterer Forschungsbedarf zum Verständnis der Satellitenmessungen und der betrachteten physikalischen Prozesse. Beispielsweise beeinflussen Bewegungen der festen Erde unter dem Ozean einige Satellitenmessungen. Diese Effekte müssen von Änderungen im eigentlichen Ozean unterschieden werden und tragen zur Restunsicherheit im Meeresspiegelbudget bei.

Zitate

Martin Horwath (Technische Universität Dresden) wissenschaftlicher Leiter der Studie:
„In diese Neuaufstellung des Meeresspiegelbudgets fließt neben Weiterentwicklungen von Datenprodukten vor allem auch die Abstimmung von Experten unterschiedlicher Disziplinen ein, aus der ein einheitlicher Rahmen für die Analysen erwachsen ist.“
Er ergänzt:
„Ein Teil der Ergebnisse ging bereits 2021 in den Sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats IPCC ein. Nun stehen alle Datenreihen und ihre Dokumentation bereit.“

Jérôme Benveniste (ESA/ESRIN), der die Studie initiiert und betreut hat, fügt hinzu:
„Dies ist ein Ertrag von Forschung und Entwicklung an der Auswertung von Erdbeobachtungsdaten, die im Rahmen der Climate Change Initiative (CCI) der ESA über viele Jahre vorangetrieben wurde. Es ist schön zu erleben, wie die Datenreihen wesentlicher Klimavariablen (Essential Climate Variables) aus CCI-Projekten sich zu einem stimmigen und präzisen Bild des Klimas und seiner Änderungen zusammenfügen. Die Arbeit endet nicht bei diesem beeindruckenden Meilenstein. Weitere Fragen, zum Beispiel zur Klimavariabilität und ihrer Entwicklung, bleiben zu beantworten.“

Benjamin Gutknecht (Technische Universität Dresden), Projektwissenschaftler, erläutert:
„In dieser Studie war es uns auch wichtig aufzuzeigen, in welchem Maße Messergebnisse von der Auswertemethodik beeinflusst werden können. Indem wir zum Beispiel neue Erkenntnisse zur Massenumverteilung der festen Erde berücksichtigen, erhalten wir eine neue Einschätzung darüber, wie zuverlässig die Ergebnisse zum Trend der Ozeanmasse tatsächlich sind. Die Trennung solcher Effekte in den Messungen bleibt eine Herausforderung.“

Petra Döll (Goethe Universität Frankfurt), als Mitautorin verantwortlich für die Abschätzung des Beitrags kontinentaler Wasserspeicherungsänderungen zum Meeresspiegel:
„Die kontinentale Wasserspeicherung schwankt saisonal und von Jahr zu Jahr, und dies spiegelt sich darin wider, dass der Meeresspiegel im globalen Mittel um einige Millimeter auf und ab schwankt. Insgesamt hat die Wasserspeicherung an Land, besonders die Speicherung von Grundwasser, in den letzten Jahrzehnten aber abgenommen und damit den Meeresspiegelanstieg verstärkt.“

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Martin Horwath
Technische Universität Dresden, Institut für Planetare Geodäsie
martin.horwath@tu-dresden.de
+49 351 463-37582

Originalpublikation:

Horwath, M., Gutknecht, B. D., Cazenave, A., Palanisamy, H. K., Marti, F., Marzeion, B., Paul, F., Le Bris, R., Hogg, A. E., Otosaka, I., Shepherd, A., Döll, P., Cáceres, D., Müller Schmied, H., Johannessen, J. A., Nilsen, J. E. Ø., Raj, R. P., Forsberg, R., Sandberg Sørensen, L., Barletta, V. R., Simonsen, S. B., Knudsen, P., Andersen, O. B., Ranndal, H., Rose, S. K., Merchant, C. J., Macintosh, C. R., von Schuckmann, K., Novotny, K., Groh, A., Restano, M., and Benveniste, J.: Global sea-level budget and ocean-mass budget, with a focus on advanced data products and uncertainty characterisation, Earth System Science Data, 14, 411–447, https://doi.org/10.5194/essd-14-411-2022, 2022.

Weitere Informationen:

https://essd.copernicus.org/articles/14/411/2022/ Direkter Zugang Publikation
https://catalogue.ceda.ac.uk/uuid/17c2ce31784048de93996275ee976fff Direkter Zugang Datensatz
https://climate.esa.int/en/projects/sea-level-budget-closure/ Website des Projekts ESA CCI Sea Level Budget Closure
https://tu-dresden.de/bu/umwelt/geo/ipg/gef Website der Professur für Geodätische Erdsystemforschung an der TU Dresden

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Claudia Kallmeier Pressestelle
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