Gesundheitssportprogramm mit Breitbandwirkung

  • Langzeitversuch Bayreuther Sportwissenschaftler
  • Die „7-Sequenzen-Intervention“ – ein hochwirksames Medikament
  • Gesundheitssportprogramm mit Breitbandwirkung

Bayreuth (UBT) Für Personen, die sich lange Zeit wenig oder nie körperlich beanspruchen und dementsprechend sehr häufig mit verschiedenen Risikofaktoren und Beschwerden belastet sind, bringt bereits eine einmalige wöchentliche Teilnahme an einem gut geplanten Gesundheitssportprogramm erstaunliche Gesundheitseffekte. Dies zeigt eine Langzeitstudie, die am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bayreuth unter Leitung von Prof. Dr. Walter Brehm durchgeführt wird.
Zu Beginn des dritten Jahrtausends ist klar, dass Bewegungsmangel einer der zentralen Risikofaktoren für die Gesundheit ist, der zahlreiche andere Risikofaktoren wie z.B. außer den Normen liegende Werte für Blutdruck, Blutzucker oder Blutfette gleichsam nach sich zieht. Ebenfalls werden viele alltägliche Beschwerden durch Bewegungsmangel mitverursacht – von Schlafstörungen über Kopfschmerzen bis hin zu den sehr häufigen Rückenproblemen.
Als gesundheitliches Bewegungsminimum gilt eine mit moderater Intensität realisierte körperliche Beanspruchung mit einem Kalorienverbrauch von 800 – 1000 kcal pro Woche zusätzlich zur normalen Alltagsaktivität (wie z.B. Herumgehen im Haus oder Fußweg zum Auto). Diese Minimalbeanspruchung kann z.B. durch 5 mal 30 Minuten schnelles Gehen oder 4 mal 30 Minuten Joggen erreicht werden. Eine solche gesundheitlich relevante Minimalbeanspruchung wird in den hoch industrialisierten Ländern – so auch in Deutschland – jedoch nur von maximal 10 bis 20% der erwachsenen Bevölkerung realisiert. 80% der erwachsenen Bevölkerung sind dementsprechend bewegungsverarmt und sind in der Folge gesundheitlich gefährdet. Die Konsequenzen dieses wenig verantwortungsvollen Umgangs mit der eigenen Gesundheit für die Volkswirtschaft werden lautstark beklagt, ohne dass Änderungen in Sicht sind.
Die am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bayreuth unter der Leitung von Prof. Dr. Walter Brehm entwickelte „7-Sequenzen-Intervention“ ist so ausgelegt, dass bei einer 90 Minuten Einheit etwa 500 kcal zusätzlich verbraucht werden. Wichtiger aber ist, dass die körperlichen Fähigkeiten systematisch und umfassend angesprochen werden, d.h. neben der Ausdauer auch die Kraft, die Dehnfähigkeit, die Koordinationsfähigkeit und die Entspannungsfähigkeit. Insbesondere zielt die Intervention im Verlauf des einjährigen Einstiegsprogramms jedoch auf eine Verhaltensänderung, von einem körperlich inaktivem verhalten zu einem körperlich aktivem Verhalten. Eine solche Verhaltensänderung ist in etwa vergleichbar mit einer Raucherentwöhnung, liebgewonnene Gewohnheiten müssen aufgegeben werden, neue Gewohnheiten – die in diesem Fall sogar noch anstrengend und teilweise mühsam sind – müssen eingeübt werden. Die allermeisten Versuche, im Erwachsenenalter eine gesundheitsorientierte körperliche Aktivität aufzunehmen und regelmäßig auszuüben scheitern im Verlauf der ersten sechs Monate. Aber auch danach gibt es viele Anlässe, die als Ausrede benutzt werden, wieder aufzuhören – meistens „ich habe dafür keine Zeit“.
Mit der „7-Sequenzen-intervention“ werden die Kursteilnehmer langsam an körperliche Beanspruchungen heran geführt. Im Laufe des ersten Jahres wird wöchentlich nur je eine Kurseinheit angeboten, d.h. etwa 45 Einheiten über das Jahr, wenn Ferienzeiten, Feiertage und andere Ausfallgründe abgezogen werden. Dabei wird allerdings gezielt ein Repertoire an Handlungskompetenz und Handlungswissen vermittelt, das die Teilnehmer befähigt, auch selbständig gesundheitsfördernde sportliche Aktivitäten, über das Kursprogramm hinaus, zu betreiben.
Die einzelnen Einheiten sind jeweils in sieben Sequenzen strukturiert:
– Eine Einstiegssequenz von etwa 3 bis 5 Minuten, in der der Übungsleiter kurz die Schwerpunkte der Einheit beschreibt und der Ruhepuls gemessen wird.
– Die Erwärmungssequenz von etwa 10 bis 15 Minuten stimmt auf eine möglichst unterhaltsame Art und Weise auf die folgenden körperlichen Beanspruchungen ein.
– Die Ausdauersequenz von etwa 15 bis 25 Minuten baut auf Gehen und Laufen auf, bezieht aber auch andere große Muskelgruppen mit ein. Meist wird hier fetzige Musik als Motivationshilfe verwendet.
– In der Kraft- und Beweglichkeitssequenz von etwa 30 bis 40 Minuten werden besonders jene Muskelgruppen gekräftigt, die zur Abschwächung neigen und jene Muskelgruppen werden gedehnt, die zur Verkürzung neigen. Besonderer Wert wird auf eine gründliche Rückenmobilisiation gelegt.
– In der Entspannungssequenz von etwa 10 bis 15 Minuten wird systematisch relaxt. Tiefmuskelentspannung und Yogaübungen gehören hier ebenso dazu wie verschiedene Formen der Massage.
– Die Ausklang- und Abschlusssequenz von etwa 10 Minuten soll nochmals aktivieren und insbesondere gute Laune bringen.
– Eine Informationssequenz von 5 bis 10 Minuten, ist in etwa jede zweite Einheit so integriert, dass die Informationen direkt umgesetzt oder auch erlebbar werden. Z.B. werden Antworten auf die Fragen „Warum schlägt das Herz beim Laufen schneller und warum ist dies auch noch gesund?“ zu Beginn der Ausdauersequenz gegeben.
Das Programm wird in Kooperation mit Sportverbänden und Sportvereinen aber auch unterstützt von Krankenkassen und Ärztekammern seit einigen Jahren in verschiedenen Bundesländern durchgeführt. Derzeit läuft z.B. eine flächendeckende Erprobung in Westfalen, bei der die AOK, die Ärztekammer und Sportvereine sowie Fitness-Studios eng zusammen arbeiten.
Ob das Programm wirklich die erhofften positiven Wirkungen auf die Gesundheit und auf das Verhalten der Teilnehmer hat, wird derzeit in einer auf vier Jahre angelegten Langzeitstudie untersucht, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert wird. Im Rahmen dieser Studie arbeitet eine Forschergruppe am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bayreuth unter Leitung von Prof. Dr. W. Brehm und Dr. R. Sygusch zusammen mit Medizinern der Universität Erlangen.
Der TV 1848 Erlangen, einer der größten Turnvereine in Franken, der sich seit längerem intensiv um den Aufbau eines qualitativ hochwertigen Gesundheitssportangebots für seine Mitglieder bemüht, bietet seit Oktober 1997 mit halbjährlichem Beginn (Oktober und April) das skizzierte Interventionsprogramm an. 117 Teilnehmern aus fünf Kursen bilden die Interventionsgruppe, eine erste Kontrollgruppe besteht aus 32 Nichtsportler, eine zweite Kontrollgruppe besteht aus 40 Personen, die seit vielen Jahren in diesem Verein breitensportlich aktiv sind. Die Geschlechtsverteilung liegt in allen drei Gruppen bei 3 (Frauen) zu 2 (Männer), der Altersdurchschnitt bei fast 50 Jahren, die männlichen Teilnehmer sind im Schnitt fast vier Jahre älter als weiblichen.
Nach einem Jahr und damit nach Abschluss der systematischen Intervention erbrachte die Studie unter anderem folgende Ergebnisse:
Insgesamt wurde im Interventionszeitraum eine sehr hohe Bindung an das Interventionsprogramm erreicht. 85% der Kursteilnehmer sind als Dabeibleiber einzustufen. Die sportliche Aktivität und der damit verbundene zusätzliche Energieverbrauch pro Woche wurden in der Interventionsgruppe hochsignifikant von 360 kcal auf ein gesundheitsrelevantes Maß von fast 1000 kcal gesteigert. In den Kontrollgruppen ergeben sich dagegen keine Veränderungen. Dies bedeutet, dass mit dem Programm das Ziel einer Verhaltensänderung für die große Mehrzahl der Teilnehmer erreicht werden konnte. Wie stabil dieses neue Verhalten ist, müssen die Untersuchungen in den nächsten Jahren zeigen.
Gesundheitlich objektiv profitiert haben insbesondere jene Teilnehmer an den Programmen, die zu Beginn gesundheitlich besonders angeschlagen waren. Für diese Teilnehmer kann nachgewiesen werden, dass bereits der eine Termin pro Woche zu einer bedeutsam positiven Veränderung ihrer Fitness, d.h. ihrer Ausdauer, Kraft, Dehn- und Koordinationsfähigkeit, führt. Weitergehend zeigt sich, dass die im metabolischen Syndrom zusammengefasste Risikofaktoren – mit Ausnahme des Übergewichts – sich bedeutsam in Richtung Normwerte verändern, dies gilt für den Blutdruck und den Blutzucker ebenso wie für zentrale Lipitparameter wie z.B. die Cholesterine.
Auf der anderen Seite machen die Daten der Studie aber auch deutlich, dass für jene Teilnehmer, die beim Einstieg in das Programm schon „körperlich ganz gut drauf“ sind, sich an den objektiven Gesundheitsparameter kaum etwas verändert. Allerdings profitieren auch diese Teilnehmer in einer doppelten Art und Weise: Zum einen werden sie an ein neues Verhalten herangeführt, was bei einer höheren Beanspruchung vermutlich nicht gelingen würde. Zum anderen profitieren diese Teilnehmer, wie alle anderen auch, in ihren subjektiven Gesundheitswahrnehmungen von dem Programm.
Alle Teilnehmer haben nach einem Jahr einen positiveren Bezug zu ihrem Körper, das Programm hat zu einer positiveren Grundgestimmtheit beigetragen, sie nehmen sich als gesünder wahr und sie sind mit ihrer Gesundheit auch zufriedener. Das bedeutet, dass sich die Teilnehmer an dem Programm nach einem Jahr insgesamt besser fühlen, besser als vorher, aber auch besser im Vergleich zur Kontrollgruppe der Nichtsportler. Gleichzeitig nähern sie sich in ihrem Befinden der Kontrollgruppe der Breitensportler an. Auch die Nachhaltigkeit dieser Effekte wird in den nächsten drei Jahren weiter überprüft.
Ausführliche Darstellungen des gegenwärtigen Standes der Projektarbeiten sind einem „Methodenbericht“ sowie dem „Ergebnisbericht 1“ zu entnehmen. Diese Bände sind in der Reihe der „Bayreuther Beiträge zur Sportwissenschaft“ (Heft 7 und 8) erschienen. (Zu beziehen über Sekretariat des Lehrstuhls für Sportwissenschaft II, Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth; elfriede.tittlbach@uni-bayreuth.de; DM 25.- pro Band).

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M. A. Jürgen Abel idw

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