Istanbul: Erstmals beweisen Unterwasser-Messungen Erdbebengefahr

Eine GEOSEA-Tripode wird vor Chile ins Wasser gelassen. Jan Steffen, GEOMAR

Zerstörte Häuser, beschädigte Hafenanlagen und tausende Opfer – am 22. Mai 1766 lösten ein Erdbeben mit einer Magnitude von ungefähr 7,5 und eine darauf folgende Flutwelle in Istanbul eine Katastrophe aus.

Der Ursprung des Bebens wird heute entlang der Nordanatolischen Störung im Marmarameer verortet. Es war bislang das letzte schwere Erdbeben, das die Metropole am Bosporus getroffen hat.

Forscherinnen und Forscher des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel konnten jetzt zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus Frankreich und der Türkei erstmals mit direkten Messungen am Meeresboden nachweisen, dass sich mittlerweile wieder eine erhebliche tektonische Spannung in der Nordanatolischen Störung unterhalb des Marmarameers aufgebaut hat.

„Sie würde reichen, um erneut ein Beben der Stärke 7,1 bis 7,4 auszulösen“, sagt der Geophysiker Dr. Dietrich Lange vom GEOMAR. Er ist der Erstautor der Studie, die heute in der internationalen Fachzeitschrift Nature Communications erscheint.

Die Nordanatolische Störungszone markiert die Grenze zwischen der eurasischen und der anatolische Erdplatte. Beide schieben sich sehr langsam aneinander vorbei. „Zu starken Erdbeben kommt es, wenn sich die Störungszone verhakt. Dann bauen sich tektonische Spannungen auf, die sich irgendwann in einem Moment entladen“, erklärt Dr. Lange.

Zuletzt geschah dies 1999 an einem Abschnitt der Nordanatolischen Störung bei Izmit, etwa 90 Kilometer östlich von Istanbul. Damals kam es zu einem Versatz der Störung um zwei bis vier Meter.

Der tektonische Spannungsaufbau entlang von Störungszonen an Land wird seit Jahren regelmäßig mit GPS oder Landvermessungsmethoden überwacht. Bei Störungszonen am Meeresboden ist dies aufgrund der geringen Eindringtiefe der Satellitensignale unter Wasser nicht möglich.

Ausgerechnet der Abschnitt der Nordanatolischen Störung, der ein erhebliches Gefährdungspotential für den Stadtkern Istanbuls birgt, liegt aber im Marmarameer.

Ob sich die Plattengrenzen dort bewegen oder verhaken, konnte bisher nur indirekt, zum Beispiel mit Beobachtungen von Land, extrapoliert werden. Die Methoden konnten allerdings nicht zwischen einer Kriechbewegung oder der kompletten Verhakung der Erdplatten unterscheiden.

Das am GEOMAR entwickelte, neuartige GeoSEA-Systems zur akustischen Abstandsmessung am Meeresboden ermöglichte jetzt erstmals eine direkte Messung der Plattenbewegung im Marmarameer. Über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren standen insgesamt zehn Messgeräte in 800 Metern Wassertiefe beiderseits der Störung. Sie führten in dieser Zeit mehr als 650.000 Abstandmessungen durch.

„Damit diese Messungen über mehrere hundert Meter auf wenige Millimeter genau sind, benötigt man auch sehr genaue Kenntnisse über die Schallgeschwindigkeit unter Wasser. Deswegen müssen auch Druck- und Temperaturschwankungen des Wassers sehr präzise über den gesamten Zeitraum gemessen werden“, erklärt Prof. Dr. Heidrun Kopp, GeoSEA-Projektleiterin und Co-Autorin der aktuellen Studie.

„Unsere Messungen zeigen, dass die Verwerfungszone im Marmarameer verhakt ist und sich deswegen tektonische Spannungen aufbauen. Das ist der erste direkte Nachweis über den Spannungsaufbau am Meeresboden südlich von Istanbul“, betont Dr. Lange.

„Wenn sich die angestaute Spannung während eines Erdbebens löst, würde sich die Verwerfungszone auf einen Schlag um mehr als vier Meter bewegen. Dies entspricht einem Erdbeben mit einer Magnitude zwischen 7,1 und 7,4“, ergänzt Professorin Kopp. Ein solches Ereignis hätte für das nahegelegene Istanbul sehr wahrscheinlich ähnlich weitreichende Folgen wie das Erdbeben 1999 für Izmit mit über 17.000 Opfern.

Lange, D., H. Kopp, J.-Y. Royer, P. Henry, Z. Çakir, F. Petersen, P. Sakic, V. Ballu, J. Bialas, S. Ozeren, S. Ergintav, L. Géli (2019): Interseismic Strain Build-up on the Submarine North Anatolian Fault Offshore Istanbul. Nature Communications,
https://doi.org/10.1038/s41467-019-11016-z

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Dr. Andreas Villwock idw - Informationsdienst Wissenschaft

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