Die gefrorenen Küsten der Arktis: Ein Lebensraum schmilzt davon

Bilder von der eroierenden Steilküste der kleinen, russischen Insel Muostakh - östlich der Hafenstadt Tikisi gelegen. Die Insel weist an der Nordspitze jaehrlich schwankende Erosionsraten zwischen 10 und 20 Meter pro Jahr auf und hat in den vergangenen 60 Jahren schon 24 Prozent ihrer Flaeche verloren (Stand 2013). Weil der Untergrund hier zu ueber 80 Prozent aus im Boden gebildetem Eis besteht, das allmaehlich taut, sinkt die Inseloberflaeche auch stark in sich zusammen. Den Volumen-Verlust beziffern die Wissenschaftler auf 34 Prozent. Foto: Thomas Opel (Foto: Thomas Opel, Alfred-Wegener-Institut)

Permafrostböden prägen ein Viertel der Landmasse auf der Nordhalbkugel. Durch den Klimawandel tauen speziell die arktischen Küsten verstärkt ab und setzen zusätzliche Mengen an Treibhausgasen frei. Ein großes EU-Projekt, das vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) koordiniert wird, untersucht jetzt die Folgen für das weltweite Klima und die Bewohner der Arktis.

Doch nicht nur das: Zusammen mit Bürgern der arktischen Region werden die Forscher Zukunftsstrategien entwickeln, mit denen die Bevölkerung den Veränderungen in ihrer Heimat begegnen kann.

Schon die schiere Größe der Permafrostgebiete macht klar, dass sie weltweit von Relevanz sind – nicht zuletzt im Hinblick auf den Klimawandel. Ein Viertel der Landmasse der Nordhalbkugel besteht aus diesen seit Jahrtausenden tiefgefrorenen Böden. Und etwa ein Drittel aller Küsten weltweit liegt in der Permafrostregion, die sich über Alaska, Kanada, Grönland, Skandinavien und Sibirien erstreckt. Schon seit vielen Jahren wissen Forscher, dass der Permafrost mit dem Klimawandel immer stärker taut.

Dennoch ist bislang weder genau bekannt, welche Konsequenzen das für das globale Klima hat, noch welche Folgen die Menschen vor Ort zu erwarten haben. Noch gibt es zu viele Wissenslücken. In dem bislang einmaligen EU-Projekt „Nunataryuk” werden deshalb in den kommenden fünf Jahren Wissenschaftler von 27 Forschungseinrichtungen die Permafrostgebiete entlang der Küsten der Welt intensiv erforschen.

Das Besondere: Sie werden intensiv mit einzelnen Gemeinden vor Ort zusammenarbeiten – auch um herauszufinden, wie die Menschen künftig mit dem Auftauen des Bodens zurechtkommen können. „Das Projekt zeichnet sich dadurch aus, dass wir zum einen die globalen Folgen des Auftauens verstehen wollen, mit den Projekten in den verschiedenen Gemeinden aber auch sehr genau schauen, was lokal passiert“, sagt der AWI-Geowissenschaftler Hugues Lantuit, der das Großprojekt koordiniert.

Permafrostböden bestehen zu einem Teil aus uralten tiefgefrorenen Pflanzenresten. Tauen diese auf, werden sie von Bakterien abgebaut, wobei große Mengen der Klimagase Kohlendioxid und Methan frei werden. Das Abtauen des Permafrosts könnte damit künftig den Klimawandel noch verstärken. Wie groß dieser Einfluss auf das Weltklima ist, kann man bislang jedoch kaum einschätzen, weil die Wirkungskette der Tauprozesse nicht umfassend verstanden ist. In mathematischen Klimamodellen wird das Tauen bisher nur recht grob simuliert.

„Diese Modelle betrachten den Permafrost als einheitliche Fläche, die von oben nach unten abtaut. Das ist aber zu simpel“, sagt Hugues Lantuit. „An der Küste zum Beispiel bricht Permafrost verstärkt durch Wellenschlag ab – in der gesamten Arktis zieht sich die Küstenlinie mittlerweile pro Jahr um durchschnittlich mehr als einen halben Meter zurück. Das berücksichtigen die Modelle nicht.“

Auch werde das aufgetaute Bodenmaterial mit all seinem klimarelevanten Kohlenstoff und seinen Nährstoffen heute verstärkt über die Bäche und Flüsse in den Arktischen Ozean gespült. Auch das bleibe unberücksichtigt. Hinzu kommt eine große Unbekannte: In der Arktis gibt es große Permafrostflächen, die unter dem Meer liegen und damit permanent überflutet sind. Diese flachen Regionen wurden seit der letzten Eiszeit durch den steigenden Meeresspiegel überflutet. Wie stark diese Areale mit dem Klimawandel auftauen könnten, ist ebenfalls kaum bekannt.

Lantuit: „In unserem Projekt werden wir daher erstmals eine flächendeckende Karte dieser Gebiete in die Klimamodelle einspielen.“ Um zu messen, wie stark Treibhausgase aus dem Küstengebiet und dem Meer aufsteigen, werden vor Ort vom Flugzeug und Hubschrauber aus die Mengen an Kohlendioxid und Methan in der Luft gemessen. „Erst damit wird man in Klimamodellen genauer einschätzen können, wie stark das Auftauen zum Treibhauseffekt beiträgt“, sagt Hugues Lantuit. „Ein Projektteam wird darüber hinaus ermitteln, welche Umweltkosten künftig durch die Treibhausgase aus dem Permafrost zu erwarten sind. Das sind Kosten, die durch Schäden verursacht werden, die der Klimawandel mit sich bringen wird.“

Schon heute sind die Menschen an den Küsten der Permafrostgebiete bedroht. Weicht der Boden auf, verlieren Häuser ihren Halt. Trinkwasserleitungen können brechen. Mancherorts schlagen Gas- oder Ölleitungen Leck. Böden werden verschmutzt. Da durch die Flüsse mehr organisches Material aus den Permafrostböden ins Meer gelangt, könnte sich auch die Meeresumwelt verändern. Im positiven Falle könnte sich das Nahrungsangebot für Meerestiere und vor allem Fische erhöhen.

Denkbar ist aber auch, dass das Material das Meer trübt und die Wasserqualität verschlechtert. Zudem könnten Schadstoffe oder Krankheitserreger ins Küstenmeer gelangen, die über Jahrtausende im Boden eingefroren waren. „All diese Aspekte interessieren die Menschen vor Ort sehr. Gemeinsam mit ihnen werden wir deshalb in den kommenden fünf Jahren Lösungsstrategien erarbeiten“, sagt Hugues Lantuit. So sollen unter anderem die Böden der Gemeinden genau kartiert werden, um Bereiche zu finden, die weniger stark tauen oder festen Untergrund bieten.

Hier können dann neue Häuser sicher errichtet werden. „Uns freut besonders, dass vor allem auch die indigene Bevölkerung mit dabei ist, die seit Jahrtausenden in diesen Gebieten lebt“, sagt Lantuit. Als Symbol für diese ungewöhnliche Art der Kooperation zwischen einem internationalen Forscherteam und Ureinwohnern wird das EU-Projekt „Nunataryuk” genannt. In der Sprache der Inuvialuit, die im Westen der kanadischen Arktis leben, bedeutet das „vom Land zur See“; auf Deutsch etwas frei übersetzt „Küste“.

Hinweise für Redaktionen:
Weitere Informationen zum Projekt finden Sie unter: http://nunataryuk.org

Ihr Ansprechpartner in der Abteilung Kommunikation und Medien ist Sebastian Grote,
(Tel.: + 49 (0) 471 4831-2006; E-Mail: sebastian.grote@awi.de).

Ihr wissenschaftlicher Ansprechpartner am Alfred-Wegener-Institut ist Prof. Dr. Hugues Lantuit (Tel.: +49 (0)331 288-2216; E-Mail: hugues.lantuit@awi.de).

Das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) forscht in der Arktis, Antarktis und den Ozeanen der gemäßigten sowie hohen Breiten. Es koordiniert die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für die internationale Wissenschaft zur Verfügung. Das Alfred-Wegener-Institut ist eines der 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands.

Media Contact

Ralf Röchert idw - Informationsdienst Wissenschaft

Weitere Informationen:

http://www.awi.de/

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Geowissenschaften

Die Geowissenschaften befassen sich grundlegend mit der Erde und spielen eine tragende Rolle für die Energieversorgung wie die allg. Rohstoffversorgung.

Zu den Geowissenschaften gesellen sich Fächer wie Geologie, Geographie, Geoinformatik, Paläontologie, Mineralogie, Petrographie, Kristallographie, Geophysik, Geodäsie, Glaziologie, Kartographie, Photogrammetrie, Meteorologie und Seismologie, Frühwarnsysteme, Erdbebenforschung und Polarforschung.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Biomarker für Therapie-Erfolg bei Tumorerkrankung im Knochenmark identifiziert

Hochrangige klinische Studie zu CAR-T-Zelltherapie beim Multiplen Myelom. Die CAR-T-Zelltherapie hat sich als wirkungsvolle Behandlung verschiedener hämatologischer Krebserkrankungen etabliert. Doch nicht bei allen Erkrankten schlägt die Therapie gleich gut an….

Neue universelle lichtbasierte Technik zur Kontrolle der Talpolarisation

Ein internationales Forscherteam berichtet in Nature über eine neue Methode, mit der zum ersten Mal die Talpolarisation in zentrosymmetrischen Bulk-Materialien auf eine nicht materialspezifische Weise erreicht wird. Diese „universelle Technik“…

Tumorzellen hebeln das Immunsystem früh aus

Neu entdeckter Mechanismus könnte Krebs-Immuntherapien deutlich verbessern. Tumore verhindern aktiv, dass sich Immunantworten durch sogenannte zytotoxische T-Zellen bilden, die den Krebs bekämpfen könnten. Wie das genau geschieht, beschreiben jetzt erstmals…

Partner & Förderer