Rezept für Rezeptornachbau

Mikrogliazellen, die künstliche Rezeptoren hervorbringen. Rouven Schulz gelang es, Mikrogliazellen, die Teil des Immunsystems im Gehirn sind, einen bestimmten G-Protein-gekoppelten Rezeptor (GPCR) produzieren zu lassen. Dazu infizierte er die Zellen mit einem speziell entwickelten Virus der ISTA Virus Services. Durch die Anwendung einer Immunfluoreszenzfärbung (Magenta) machte er die Rezeptoren auf der Zelloberfläche sichtbar. Außerdem färbte er die Zellkerne mit einem weiteren Farbstoff blau ein. © Rouven Schulz / ISTA

Rezeptoren auf Zelloberflächen übersetzen ein äußeres Signal in eine Reaktion im Zellinneren. So spielen sie eine wichtige Rolle für wesentliche Prozesse in lebenden Organismen. Doch was wäre, wenn sich die Rezeptoren nach Bedarf steuern ließen? Rouven Schulz von der Siegert Gruppe am ISTA hat einen solchen Mechanismus entdeckt. Mit künstlich hergestellten Rezeptoren ahmt das Team die Funktion des Originals nach. Das eröffnet vielversprechende neue Wege zum Verständnis und zur Nutzung der zellulären Signalübertragung von Immunzellen.

Wie lösen Signale von außerhalb der Zelle eine Reaktion in ihr aus? Die Signale von außen können Hormone oder Neurotransmitter sein. Um sie wahrzunehmen, verfügt die Zelloberfläche über Rezeptoren. Eine der wichtigsten Klassen solcher Rezeptoren sind die so genannten G-Protein-gekoppelten Rezeptoren, kurz GPCRs. Sie sind Proteine, die auf der Zellmembran sitzen. Werden sie durch ein äußeres Signal aktiviert, lösen sie im Inneren der Zelle Prozesse aus, die weitreichende Auswirkungen auf das Zellwachstum haben, aber auch auf die Zellbewegung, den Stoffwechsel und die Kommunikation zwischen den Zellen. Diese Gruppe von mehr als 800 Rezeptoren spielt bei vielen Krankheiten eine wichtige Rolle. Daher sind GPCRs wichtige Zielstrukturen für Arzneimittel. Tatsächlich zielen 35 Prozent aller von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) zugelassenen Medikamente auf sie ab, was einen jährlichen Markt von schätzungsweise 180 Milliarden US-Dollar eröffnet.

Trotz ihrer Bedeutung existieren bei der Erforschung von GPCRs zahlreiche Herausforderungen. Erstens sind viele der Substanzen, die an sie binden, sogenannte Liganden, unbekannt. Zweitens können selbst bekannte Liganden im Organismus schwer verfügbar sein oder unerwünschte Nebenwirkungen verursachen. Und drittens ist es schwierig, Reaktionen genau zu bestimmen, wenn derselbe Rezeptor auf verschiedenen Zellen im Körper vorkommt. Zum Beispiel kann derselbe GPCR auf einer Immunzelle eine Entzündung modulieren, während er im Bronchialgewebe die Muskeln entspannen kann. „Wir wollten diese Einschränkungen überwinden. Deshalb haben wir für alle, die sich mit GPCRs beschäftigen, eine zugängliche und effektive Toolbox entwickelt“, sagt Rouven Schulz, Doktorand am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) und Hauptautor der in Nature Communications veröffentlichten Studie.

Wie imitiert man einen Rezeptor?

Vereinfacht ausgedrückt, haben Schulz und seine Kolleg:innen künstliche Nachbildungen von GPCRs gebaut. Die Nachahmungen sind gegenüber den ursprünglichen Signalen von außen unempfindlich, können aber durch ein entsprechendes, leicht kontrollierbares Medikament aktiviert werden, das genau darauf ausgelegt ist, sich nur an diesen Rezeptor zu binden. Das bekannte Verfahren zur Schaffung von Designer-Rezeptoren, die ausschließlich durch Designer-Medikamente aktiviert werden (DREADDs), ermöglichte es den Autor:innen, Chimären von praktisch jedem GPCR herzustellen. Um die Funktionalität prinzipiell zu belegen, wählten sie β2AR – einen Rezeptor von großer biologischer Bedeutung, auch beim Menschen. Die Nachbildung von β2AR wird selektiv durch ein bekanntes Medikament namens Clozapin-N-Oxid aktiviert. „Sobald wir den Prototypen einer Nachbildung von β2AR hatten, konnten wir viele der Verhaltensweisen des Originals im lebenden Organismus erfolgreich reproduzieren. Erstaunlicherweise ahmt die Chimäre zahlreiche Funktionen exakt nach“, erklärt Schulz.

Die Forscher:innen wendeten die Methode dann auf Mikrogliazellen an. Diese Immunzellen sind Schlüsselzellen für die Aufrechterhaltung des Gehirns und des gesamten zentralen Nervensystems. Sie sind ständig auf der Suche nach Infektionserregern, aber auch nach beschädigten oder nicht funktionierenden neuronalen Verbindungen. „GPCRs, insbesondere β2AR, sind für diese Funktionen der Mikrogliazellen entscheidend. Ausgestattet mit unseren Rezeptorchimären von β2AR, replizierten die Mikrogliazellen den Prozess der Entzündung im Nervensystem.“

Das große Ganze

Schaut man sich die GPCRs in Mikrogliazellen und Immunzellen insgesamt genauer an, findet man eine große Vielfalt von ihnen. Bislang weiß jedoch niemand, warum Organismen und Menschen eine solche Vielfalt dieser Rezeptoren aufweisen. Häufig werden GPCRs nach den typischen Wegen kategorisiert, wie sie Signale weiterleiten, auch im Fachjargon Signalwege genannt. „In unseren Daten sehen wir jedoch, dass es subtile Unterschiede zwischen den Rezeptoren gibt, selbst wenn sie denselben Signalweg steuern“, erläutert Assistenzprofessorin Sandra Siegert. „Das deutet wiederum darauf hin, dass sie fein abgestimmte Eigenschaften besitzen, die über diese kanonischen Signalwege hinausgehen. Jetzt haben wir endlich eine Möglichkeit, diese Details zu untersuchen.“ Derzeit erweitert die Gruppe die Methode mit Hilfe von Stammzellen auf den menschlichen Kontext. Auf diese Weise wollen die Wissenschafter:innen untersuchen, wie sich verschiedene Arten von Entzündungsmerkmalen durch die Stimulation von GPCRs verändern.

Publikation:

Rouven Schulz, Medina Korkut-Demirbaş, Gloria Colombo, Alessandro Venturino, und Sandra Siegert. 2022. Chimeric GPCRs mimic distinct signaling pathways and modulate microglia responses. Nature Communications. DOI: 10.1038/s41467-022-32390-1

Projektförderung:

Diese Forschung wurde durch ein DOC-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) unterstützt.

Information zu Tierversuchen:

Die Bestätigung der Funktion des DREADD-β2AR-Prototyps ist nur möglich, indem man die Rezeptoren in lebende Tiere einbringt, da sich Mikrogliazellen außerhalb dieser Umgebung in ihrer genetischen, molekularen und funktionellen Signatur völlig verändern. Keine anderen Methoden, wie zum Beispiel in silico-Modelle, können als Alternative dienen. Die Tiere werden nach den strengen Vorschriften des österreichischen Rechts aufgezogen, gehalten und behandelt. Alle Tierversuche sind vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung genehmigt.

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Mikrogliazellen, die künstliche Rezeptoren hervorbringen. Rouven Schulz gelang es, Mikrogliazellen, die Teil des Immunsystems im Gehirn sind, einen bestimmten G-Protein-gekoppelten Rezeptor (GPCR) produzieren zu lassen. Dazu infizierte er die Zellen mit einem speziell entwickelten Virus der ISTA Virus Services. Durch die Anwendung einer Immunfluoreszenzfärbung (Magenta) machte er die Rezeptoren auf der Zelloberfläche sichtbar. Außerdem färbte er die Zellkerne mit einem weiteren Farbstoff blau ein. © Rouven Schulz / ISTA

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Assistenzprofessorin Sandra Siegert, zuvor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) tätig, leitet seit 2015 ihre eigene Forschungsgruppe am ISTA. Sie untersucht, wie Mikrogliazellen die neuronale Funktion im Nervensystem beeinflussen. © Nadine Poncioni/ISTA

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Doktorand Rouven Schulz. Nach jahrelanger Laborarbeit fand Schulz, wonach das Team suchte: eine Methode zur Herstellung speziell entwickelter Rezeptoren, die das Verhalten ihres Originals nachahmen, aber auf Befehl aktivierbar sind. © Nadine Poncioni/ISTA

Medienkontakt:

Markus Feigl

markus.feigl@ista.ac.at

+43 664 8832 6393

 

Über das ISTA

Das Institute of Science and Technology Austria (ISTA) ist ein Forschungsinstitut mit eigenem Promotionsrecht. Das Institut beschäftigt Professor:innen nach einem Tenure-Track-Modell und Post-Doktorand:innen sowie PhD-Student:innen in einer internationalen Graduate School. Neben dem Bekenntnis zum Prinzip der Grundlagenforschung, die rein durch wissenschaftliche Neugier getrieben wird, hält das Institut die Rechte an allen resultierenden Entdeckungen und fördert deren Verwertung. Der erste Präsident ist Thomas Henzinger, ein renommierter Computerwissenschafter und vormals Professor an der University of California in Berkeley, USA, sowie der EPFL in Lausanne. Ihm folgt ab dem Jahr 2023 Martin Hetzer. www.ista.ac.at

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