Nervenzellen im menschlichen Gehirn können „zählen“
Die Fähigkeit zu zählen ist uns in die Wiege gelegt: Bereits kurz nach der Geburt können Säuglinge die Anzahl von Ereignissen abschätzen und sogar einfache Berechnungen durchführen. Doch was spielt sich dabei genau im Gehirn ab? Und verarbeiten wir abstrakte Zahlen anders als konkrete Mengen?
Forscher von der Abteilung für Epileptologie der Universität Bonn sind diesen beiden Fragen zusammen mit Neurobiologen der Universität Tübingen nachgegangen. Sie profitierten dabei von einer Besonderheit des Bonner Universitätsklinikums: Die dort angesiedelte Klinik für Epileptologie ist auf chirurgische Eingriffe im Gehirn spezialisiert.
Mit ihnen versuchen die Ärzte, Epilepsiekranke durch eine Operation zu heilen, bei der sie das erkrankte Nervengewebe entnehmen. Um diesen Krampfherd zu lokalisieren, müssen sie dazu in manchen Fällen zunächst Elektroden ins Gehirn der Betroffenen einbringen. Als Nebeneffekt können Forscher diesen Umstand nutzen, um den Patienten beim Denken zuzuschauen.
Algorithmus erkennt, wie viele Punkte Versuchspersonen sehen
So auch in der aktuellen Studie: Bei den neun Teilnehmer handelte es sich um Epilepsie-Patienten, denen haarfeine Mikroelektroden in den Schläfenlappen eingesetzt worden waren. „Damit konnten wir die Reaktion einzelner Nervenzellen auf visuelle Reize messen“, erläutert der Leiter der Arbeitsgruppe Kognitive und Klinische Neurophysiologie Prof. Dr. Dr. Florian Mormann.
Die Wissenschaftler zeigten ihren Probanden nun auf einem Computerbildschirm eine unterschiedlich große Anzahl von Punkten – mal nur einen, mal vier oder auch fünf. „Wir konnten zeigen, dass bestimmte Nervenzellen vor allem bei ganz bestimmten Mengen feuerten“, erklärt Esther Kutter, Erstautorin der Studie. „Manche wurden zum Beispiel hauptsächlich durch drei Punkte aktiviert, andere durch einen.“
Jede Menge erzeugt also im menschlichen Gehirn ein spezifisches Aktivitätsmuster. „Wir haben einen Klassifizierungs-Algorithmus geschrieben, der dieses Muster auswertet“, erklärt Mormann. „Mit ihm konnten wir aus dem Erregungszustand der Nervenzellen ablesen, wie viele Punkte unsere jeweilige Versuchsperson gerade sah.“
Zudem beobachteten die Wissenschaftler einen interessanten Effekt: Die Neuronen waren zwar auf eine bestimmte Menge „eingestellt“, sprachen aber auch auf leicht abweichende Mengen an. Eine Dreier-Hirnzelle feuerte also auch bei zwei oder vier Punkten, dann aber schwächer. Durch einen oder fünf Punkte ließ sie sich dagegen kaum noch aktivieren.
Experten nennen das „Numerical Distance Effect“. Prof. Dr. Andreas Nieder von der Universität Tübingen, Mit-Betreuer der Studie, hat dasselbe Phänomen bereits bei Versuchen an Affen nachgewiesen. „Anzahlen werden in unserem Gehirn auf genau die gleiche Weise wie im Gehirn von Affen verarbeitet“, betont er. „Das bestätigt Affen als unverzichtbares Modell für die Erforschung der Verarbeitung quantitativer Information.“
Wir eignen uns Ziffern anders an als Zeichen
Wie wir Ziffern verarbeiten – also Symbole, die Quantitäten repräsentieren –, lässt sich mit Hilfe von Tieren aber kaum beantworten. Die Wissenschaftler konnten nun erstmals zeigen, dass das im Prinzip so ähnlich funktioniert wie mit Mengen: Wenn wir eine bestimmte Ziffer sehen, feuern bestimmte Hirnzellen. Die Ziffern-Neuronen sind aber nicht mit den Mengen-Neuronen identisch: Die Ziffer „3“ regt ganz andere Nervenzellen an als eine Menge von drei Punkten.
Noch spannender ist eine weitere Beobachtung: „Auch bei den Ziffern-Neuronen gibt es einen Numerical Distance Effect“, sagt Mormann. „Sie lassen sich also ebenfalls nicht nur durch die genau passende Ziffer, sondern auch durch deren Nachbarn anregen – allerdings nur sehr schwach.“
Dennoch zeigt dieses Phänomen, dass wir uns Ziffern anders aneignen als einfache Zeichen: Die Neuronen haben gewissermaßen gelernt, dass sich eine 3 in ihrem Wert nur wenig von einer 2 oder einer 4 unterscheidet, sonst würden sie nicht auch auf diese beiden Ziffern ansprechen. Ziffern scheinen also fest mit einer bestimmten Mengenvorstellung verwoben zu sein.
Die Forscher hoffen, dass ihre Ergebnisse auch zu einem besseren Verständnis der Dyskalkulie beitragen, einer Entwicklungsstörung, die unter anderem mit einem schlechteren Mengenverständnis einhergeht.
Prof. Dr. Dr. Florian Mormann
Klinik für Epileptologie, Universität Bonn
Tel. 0228/28715738
E-Mail: fmormann@yahoo.de
Prof. Dr. Andreas Nieder
Institut für Neurobiologie, Universität Tübingen
Tel. 07071/2975347
E-Mail: andreas.nieder@uni-tuebingen.de
Esther F. Kutter, Jan Bostroem, Christian E. Elger, Florian Mormann und Andreas Nieder: Single neurons in the human brain encode numbers; DOI: 10.1016/j.neuron.2018.08.036
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