Das Vogelhirn ist überraschend komplex

Faseraufbau im Vergleich: Das 3D-PLI-Verfahren zeigt die Richtungen der Nervenfasern farbig kodiert an. Die Größenverhältnisse der Gehirne spiegeln nicht die wahren Verhältnisse wider.
Dr. Christina Herold
HHU Düsseldorf / Herold et al.

Manche Vögel können erstaunliche kognitive Leistungen vollbringen – dabei galt ihr Gehirn im Vergleich mit dem von Säugetieren als ziemlich unorganisiert. Forscher aus Bochum (RUB), Düsseldorf (HHU), Jülich (FZJ), und Aachen (RWTH) zeigen nun erstmals verblüffende Ähnlichkeiten zwischen dem Neocortex der Säugetiere und sensorischen Hirnarealen von Vögeln: Beide sind in horizontalen Schichten und vertikalen Säulen vernetzt. 150 Jahre alte Annahmen sind damit widerlegt. Entscheidende Einblicke lieferte dabei eine von Jülicher und Düsseldorfer Hirnforschern entwickelte Methode. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Science“ veröffentlicht.

Die größten Gehirne

Vögel und Säugetiere haben gemessen an ihrer Körpergröße die größten Gehirne. Ansonsten hätten sie allerdings wenig gemeinsam, so die Überzeugung der Wissenschaft seit mehr als hundert Jahren: Säugetiergehirne verfügen über eine Hirnrinde, die aus sechs Schichten aufgebaut und senkrecht zu diesen Schichten in Säulen hochgradig geordnet ist. Betrachtet man hingegen das Vogelgehirn, so erscheint es zunächst wenig organisiert, und weist auf den ersten Blick nur Ansammlungen mehr oder weniger verdichteter Zellen auf.

„Angesichts der erstaunlichen kognitiven Leistungen, die Vögel vollbringen können, lag der Verdacht allerdings nahe, dass ihr Gehirn organisierter aufgebaut ist als gedacht“, so Prof. Dr. Onur Güntürkün, Leiter der Arbeitseinheit Biopsychologie an der Fakultät für Psychologie der RUB und Experte für die Kognition von Vögeln.

Und tatsächlich, die Gehirne von Vögeln und Säugetieren sehen sich in ihrer Organisation überraschend ähnlich. In mehreren Experimenten gelang den Forschern um Dr. Christina Herold (C. u. O. Vogt Institut für Hirnforschung, HHU) und Dr. Martin Stacho (RUB) nun der Nachweis dafür. Denn auch im Vogelhirn verlaufen die Fasern horizontal und vertikal, genauso wie im Neocortex der Säugetiere.

Perfektionierte Technik erlaubt neue Einsichten

Im ersten Schritt kam eine neue, am Forschungszentrum Jülich entwickelte Methode zum Einsatz: Das sogenannte 3D Polarized Light Imaging, kurz 3D-PLI, ist in der Lage, Verlauf und die Ausrichtung von Nervenfasern, in denen Signale weitergeleitet werden, für das gesamte Gehirn darzustellen.

Mit etablierten Methoden war es zuvor nicht möglich, den Faseraufbau größerer Bereiche des Vogelgehirns in dieser Genauigkeit abzubilden. Diese sind entweder auf kleine Gewebeproben beschränkt, wie das „Tracing“, das einzelne Zellen und ihre Verbindungen erfasst, oder sind aufgrund ihrer vergleichsweise geringen Auflösungen im Millimeterbereich, wie etwa MRT-Bilder, von der Erfassung einzelner Zellen weit entfernt. Die Ebene dazwischen lag damit im Dunkeln.

„3D-PLI ist etwas weniger hoch aufgelöst als die Tracing-Methoden, dafür aber in der Lage, große Gewebevolumen zu analysieren – ein entscheidender Vorteil“, erklärt Dr. Markus Axer, der eine Arbeitsgruppe zu dem Verfahren am Forschungszentrum Jülich leitet. Mit der Methode konnten die Forscher drei komplette Taubengehirne in einer Auflösung von 1,3 Millionstel Millimetern analysieren. Jeweils 250 hauchdünne Schnitte wurden dabei hochauflösend gescannt und in 3D rekonstruiert. „Das 3D-PLI trägt wesentlich zu einem tieferen Verständnis der Verbindungsstruktur des Gehirns bei und ermöglicht es, über die verschiedenen Spezies hinweg Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Struktur der Netzwerke der Neurone zu erfassen“, betont Prof. Katrin Amunts, Direktorin der beiden Institute in Jülich und Düsseldorf.

Da die 3D-PLI-Methode sehr rechenintensiv ist, nutzen die Forscher bei der Verarbeitung der Daten die Supercomputing-Plattform FENIX, zu der das Jülich Supercomputing Centre maßgeblich beiträgt. FENIX ist Teil der neuen EBRAINS-Infrastruktur, die im Human Brain Project entwickelt wird und Hirnforschern ein ganzes Set neuer Methoden und Ressourcen zur Verfügung stellt, darunter auch die in Jülich und Düsseldorf erstellten 3D-Atlanten des menschlichen Gehirns, BigBrain und Julich-Brain.

Weitere Tracing-Experimente in Bochum erlaubten es, die Vernetzung der Zellen im Vogelhirn genau zu untersuchen. Die Technik nutzt winzige Kristalle, welche sich bis in die kleinsten Verästelungen der Nervenzellen in Hirnschnitten ausbreiten. „Auch hierbei zeigte sich der Aufbau in Säulen, in denen Signale von oben nach unten und umgekehrt weitergeleitet werden, und horizontale lange Fasern“, erklärt Onur Güntürkün. Dieser Aufbau ist allerdings nur in den sensorischen Bereichen des Vogelgehirns vorzufinden. Andere Bereiche, wie etwa assoziative Areale, sind anders organisiert.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Christina Herold
Cecilé & Oskar Vogt Institut für Hirnforschung
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Universitätsklinikum Düsseldorf
Tel.: +49 211 81 06112
E-Mail: Christina.Herold@uni-duesseldorf.de

Prof. Katrin Amunts
Institut für Neurowissenschaften und Medizin, Strukturelle und funktionelle Organisation des Gehirns (INM-1)
Cecilé & Oskar Vogt Institut für Hirnforschung, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf & Universitätsklinikum Düsseldorf
Tel: +49 2461 614300
E-Mail: k.amunts@fz-juelich.de

Dr. Markus Axer
Institut für Neurowissenschaften und Medizin, Strukturelle und funktionelle Organisation des Gehirns (INM-1)
Tel: +49 2461 616314
E-Mail: m.axer@fz-juelich.de

Originalpublikation:

Martin Stacho(†), Christina Herold(†), Noemi Rook, Hermann Wagner, Markus Axer, Katrin Amunts, Onur Güntürkün
A cortex-like canonical circuit in the avian forebrain,
Science (published online 25 September 2020), DOI: 10.1126/science.abc5534

(†) contributed equally

Weitere Informationen:

https://science.sciencemag.org/content/369/6511/eabc5534 Originalpublikation
https://www.fz-juelich.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/UK/DE/2020/2020-09-25-sc… Pressemitteilung des Forschungszentrums Jülich

Media Contact

Dipl.-Biologin Annette Stettien Unternehmenskommunikation
Forschungszentrum Jülich

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