Quasi-Teilchen in der Natur: zwei Welten treffen sich endlich

Prof. Dr. Georgeta Salvan, Professur Halbleiterphysik (TU Chemnitz), und Prof. Dr. Jörg Matysik, Institut für Analytische Chemie (Universität Leipzig), waren an der Studie beteiligt.
Fotografik: Jacob Müller

Forscherinnen und Forscher der Universität Leipzig, der TU Chemnitz und der Universität Augsburg berichten in „Chemical Science“, dem Flagship-Journal der Royal Society of Chemistry, von einem Phänomen der Festkörperphysik, das sie in einem biologischen System entdeckten.

In der Festkörperphysik führen energetische Anregungen, zum Beispiel Licht-Absorption an Molekül-Kristallen, zu Verzerrungen der räumlichen Struktur oder zu einer Verschiebung von elektrischer Ladung. Diese angeregten Zustände werden oftmals als sogenannte „Quasi-Teilchen“ beschrieben. Ein „Polaron“ ist zum Beispiel eine positive Ladung mit samt seiner Umgebung, in der sich negative Ladungen formiert haben. Wie aber ist das bei biologischen Photorezeptoren?

Die Funktion von Photorezeptoren wird in der Photobiologie erforscht. Diese enthalten immer ein Pigment, das das Licht absorbiert. Wie funktioniert das lichtempfindliche Rezeptormolekül Rhodopsin im Auge? Wieso können Bakterien in Richtung einer Lichtquelle wandern? Woher wissen Zugvögel ihre gewünschte Flugrichtung so genau? Die Photobiologie beantwortet diese Fragen mit Konzepten der theoretischen organischen Chemie. Das Rhodopsin enthält als Pigment Vitamin A (Retinal), in dem eine C=C-Doppelbindung photochemisch gedreht wird. Flavin-Proteine, so vermutet man, erlauben den Augen der Zugvögel unter Belichtung chemische Prozesse zu starten, die Magnetfeld-abhängig sind und als „Radikalpaar-Mechanismus“ bezeichnet werden.

Und was machen Pflanzen? Deren „Auge“ ist ein Photorezeptor namens Phytochrom. Er teilt den Pflanzen und Cyanobakterien mit, wie hell es ist und ob sich Photosynthese lohnt. Dieses Photorezeptor-Protein enthält einen offenkettigen Tetrapyrrol-Kofaktor als Pigment, dass das Licht absorbiert. Auch beim Phytochrom erkannte man zuerst, dass Licht eine C=C-Doppelbindung umdreht, wodurch eine Kaskade von kleinen Bewegungen in der Umgebung ausgelöst wird. Das sind alles Begriffe aus der organischen Chemie, die in die Strukturbiologie aufgenommen wurden.

Eine neue Studie, deren Ergebnisse nun in der Zeitschrift „Chemical Science“ veröffentlicht wurden, untersuchte diesen durch Licht ausgelösten Schaltprozess in einem cyanbakteriellen Phytochrom. Mit Hilfe einer besonderen neuen Probenpräparationsmethode, von Doktorandin Lisa Köhler (Universität Leipzig) eingeführt, konnten auch die Zwischenschritte des Reaktionsverlaufs beobachtet werden. Im Arbeitskreis von Prof. Dr. Jörg Matysik (Institut für Analytische Chemie der Universität Leipzig) konnte auf diese Weise mit der Methode der Kernspinresonanz (NMR) von allen Reaktionsschritten detaillierte Daten aufgenommen werden. „Tatsächlich zeigen die Daten eine C=C-Doppelbindungsisomerisierung. Die führt zu einer Störung des Doppelbindungssystems, einem positiv geladenen Defekt, der sich eigentlich entlang des Doppelbindungssystems bewegen können sollte“, sagt Matysik. Durch seine Ladung ziehe er aber negative Ladung an und wird so auf einer bestimmten Stelle fixiert. Hier liegt also ein Polaron, wie man es aus der Festkörper-Physik kennt, und es ist „selftrapped“ (lokalisiert).

Prof. Dr. Georgeta Salvan von der Professur Halbleiterphysik der Technischen Universität Chemnitz, die an der Interpretation der Daten beteiligt war, erläutert: „Die molekulare Struktur des offenkettigen Tetrapyrrols ähnelt einigen Molekülen, wie dem α-Sexithiophen, die als organische Halbleiter verwendet werden. Daher konnte man schon vermuten, dass auch in diesem Photorezeptor ähnliche Phänomene beobachtet werden können. Es stellt sich uns die Frage, ob Phänomene der Festkörperphysik in biologischen Systemen nicht häufiger vorkommen, aber nicht gefunden werden, weil man nicht nach ihnen sucht“.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Georgeta Salvan, Professur Halbleiterphysik (TU Chemnitz), Telefon +49 (0)371 531-33137, E-Mail salvan@physik.tu-chemnitz.de, und Prof. Dr. Jörg Matysik, Institut für Analytische Chemie (Universität Leipzig), Telefon +49 (0)341 9736112, E-Mail joerg.matysik@uni-leipzig.de

Originalpublikation:

Lisa Köhler, Wolfgang Gärtner, Georgeta Salvan, Jörg Matysik, Christian Wiebeler, Chen Song; “Photocycle of a cyanobacteriochrome: Charge defect on ring C impairs conjugation in chromophore”; Chemical Science, online (2023).; DOI: 10.1039/D3SC00636K
https://pubs.rsc.org/en/content/articlepdf/2023/SC/D3SC00636K?page=search

http://www.tu-chemnitz.de/

Media Contact

Dipl.-Ing. Mario Steinebach Pressestelle und Crossmedia-Redaktion
Technische Universität Chemnitz

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Diamantstaub leuchtet hell in Magnetresonanztomographie

Mögliche Alternative zum weit verbreiteten Kontrastmittel Gadolinium. Eine unerwartete Entdeckung machte eine Wissenschaftlerin des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme in Stuttgart: Nanometerkleine Diamantpartikel, die eigentlich für einen ganz anderen Zweck bestimmt…

Neue Spule für 7-Tesla MRT | Kopf und Hals gleichzeitig darstellen

Die Magnetresonanztomographie (MRT) ermöglicht detaillierte Einblicke in den Körper. Vor allem die Ultrahochfeld-Bildgebung mit Magnetfeldstärken von 7 Tesla und höher macht feinste anatomische Strukturen und funktionelle Prozesse sichtbar. Doch alleine…

Hybrid-Energiespeichersystem für moderne Energienetze

Projekt HyFlow: Leistungsfähiges, nachhaltiges und kostengünstiges Hybrid-Energiespeichersystem für moderne Energienetze. In drei Jahren Forschungsarbeit hat das Konsortium des EU-Projekts HyFlow ein extrem leistungsfähiges, nachhaltiges und kostengünstiges Hybrid-Energiespeichersystem entwickelt, das einen…

Partner & Förderer