Taktgeber im Gehirn der Singvögel

Veränderungen der pPer2-Expression im SCN (Pfeilspitzen) und im lateralen hypothalamischen Nucleus (Pfeile) des Haussperlinggehirns im Tag/Nacht-Wechsel. Die Unterschiede der Gen-Expression in den unterschiedlichen Regionen zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten verdeutlichen die komplizierte räumlich-zeitliche Organisation des hypothalamischen Schrittmacherzentrums. Das Per2-Signal ist rot eingefärbt. Die linke Spalte zeigt Aufnahmen des vordersten (rostralen) Teils des SCN, in der rechten Spalte ist der hintere (caudale) Abschnitt des SCN sowie der laterale hypothalamische Nucleus zu sehen. Die Zahlen repräsentieren die jeweiligen Zeitgeber-Zeiten: 24 = unmittelbar vor Tagesanbruch, 6 = Tagesmitte, 12 = unmittelbar vor Anbruch der Nacht, 18 = Mitternacht.Foto: Roland Brandstätter, Max-Planck-Forschungsstelle für Ornithologie

Max-Planck-Wissenschaftler klonieren erstmals ein Uhren-Gen

Durch die Zusammenarbeit der Max-Planck-Forschungsstelle für Ornithologie in Andechs und des Max-Planck-Instituts für experimentelle Endokrinologie in Hannover haben Forscher erstmals ein Uhren-Gen eines Singvogels kloniert und dessen Vorkommen im Gehirn festgestellt. Auf diese Weise ist es gelungen, die komplizierte Organisation des tagesperiodischen Schrittmachersystems der Vögel auf molekularer Ebene zu zeigen und die Modell-Vorstellungen der inneren Uhr der Vögel beträchtlich zu erweitern. Darüber berichten die Wissenschaftler in der neuesten Ausgabe der MaxPlanckForschung, dem Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft.

Die Erde dreht sich im 24-Stunden-Rhythmus um ihre eigene Achse. Dadurch wird sämtliches Leben auf unserem Planeten – vom Einzeller bis hin zum Menschen – vom ständigen Tag/Nacht-Wechsel beeinflusst. Alle uns bekannten Organismen folgen auf die eine oder andere Weise regelmäßigen Veränderungen der Umwelt. Allerdings nicht nur, weil die Umwelt sich verändert, sondern in erster Linie aufgrund „innerer biologischer Uhren“, die die Physiologie und das Verhalten steuern und den Organismus in Einklang mit dem Takt der Umwelt bringen. „Außergewöhnliche“ Umstände wie unerwartete Veränderungen der Umweltbedingungen passen jedoch – insbesondere bei Säugetieren – nicht unbedingt in das Konzept der inneren Uhr. Diese Erfahrung können wir Menschen zum Beispiel nach Überseeflügen machen, wenn der tagesperiodische Takt unserer inneren Uhr nicht mehr mit den „neuen“ Tag/ Nacht-Bedingungen unseres Ankunftsorts zusammenpasst: Wir durchleben dann einen Jetlag.

Bei Tieren, die einem höheren Druck der Umwelt ausgesetzt sind und eine optimale Anpassung an den Tag/Nacht-Wechsel benötigen, um überleben zu können, muss die innere Uhr nicht nur an die Umwelt angepasst sein, sondern auch möglichst schnell wechselnden Umweltbedingungen folgen können. So ist die innere Uhr der Vögel aus mehreren Komponenten aufgebaut, die auf unterschiedliche Arten Veränderungen der Umwelt wahrnehmen können; dabei nimmt die Zirbeldrüse eine besondere Stellung ein (Brandstätter et al., PNAS 2000; 97: 12324-12328). Im Gegensatz dazu sitzt der Hauptschrittmacher der inneren Uhr der Säugetiere – und somit auch des Menschen – in einem kleinen Kerngebiet im Hypothalamus des Gehirns, dem so genannten Nucleus suprachiasmaticus (SCN). Bereits seit mehreren Jahrzehnten suchen Forscher aus den USA, Japan und verschiedenen europäischen Ländern nach einer zur hypothalamischen Uhr der Säuger vergleichbaren Struktur im Gehirn der Vögel. Bisher haben jedoch weder experimentelle noch funktionelle Studien klare Rückschlüsse zugelassen. Ausgehend von speziellen Eigenschaften des SCN der Säuger sind in den vergangenen 15 Jahren mehrere Kerngebiete im Hypothalamus der Vögel als mögliche Kandidaten diskutiert und kontrovers als Schrittmacherzentren proklamiert worden. Roland Brandstätter und Ute Abraham von der Max-Planck-Forschungsstelle für Ornithologie haben nun in den vergangenen zwei Jahren umfangreiche anatomische und neurochemische Informationen über den Hypothalamus der Singvögel erarbeitet. Ergebnis: Im Hypothalamus der Vögel wurden zwar weitestgehend die gleichen neurochemischen Botenstoffe wie bei den Säugetieren gefunden, deren anatomische Verteilung unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von der der Säuger. Dies gilt auch für die anatomische Abgrenzung der vorhandenen Kerngebiete. Diese Forschungen zeigen, dass der klassische neurobiologische Ansatz, der zu einer umfassenden Beschreibung des SCN der Säuger geführt hatte, nicht ausreichte, um bei den Vögeln zu schlüssigen Informationen zu gelangen. In Zusammenarbeit mit Urs Albrecht vom Max-Planck-Institut für experimentelle Endokrinologie in Hannover haben die Forscher aus Andechs nun erstmals ein „Uhren-Gen“ eines Singvogels kloniert und dessen Vorkommen im Gehirn festgestellt. Dieses Gen entspricht strukturell dem Per2-Gen der Säuger, das wesentlich am Aufbau und an der Aufrechterhaltung circadianer Rhythmen beteiligt ist. Im Gegensatz zum Säuger ist dieses Per2-Gen beim Vogel jedoch nicht nur im SCN lokalisiert, sondern in mehreren hypothalamischen Kerngebieten zu finden. Dieser erste Nachweis eines Uhren-Gens im Hypothalamus eines Nicht-Säugers deutet darauf hin, dass das hypothalamische Schrittmacherzentrum der Vögel eine weniger klar erkennbare anatomische Struktur aufweist und die einzelnen Schrittmacher-Zellen weiter über den Hypothalamus verstreut sind als beim Säuger.

Die Untersuchung von Haussperling-Gehirnen zu unterschiedlichen Zeitpunkten während Tag und Nacht ergab, dass dieses Gen in einer ganz besonderen Art und Weise exprimiert wird. Bereits vor dem Anbruch des Tages ist das als pPer2 bezeichnete Gen im vordersten Teil des SCN des Haussperlings zu finden. Die Stärke der Expression nimmt dann bis zur Mitte des Tages zu und dehnt sich über das ganze Kerngebiet aus, sinkt bis zum Anbruch der Dunkelheit und verschwindet schließlich während der Nacht völlig. Erstaunlicherweise taucht dieses Gen zur Tagesmitte auch in einem dem SCN benachbarten Kerngebiet auf, das bisher weder klar anatomisch abgegrenzt noch benannt worden war. Dieses Kerngebiet, derzeit als „lateraler hypothalamischer Nucleus“ bezeichnet, zeigt nur während der zweiten Tageshälfte eine Expression des pPer2. Während also im SCN bereits vor „Licht an“ Uhren-Gene exprimiert werden, sind im benachbarten lateralen Hypothalamus nur während der Tagphase Uhren-Gene aktiv. Diese aktuellen Ergebnisse (Brandstätter et al., NeuroReport 2001; 12(6): 1167-1170) ermöglichen nicht nur einen ersten Einblick in das molekulare Uhrwerk des Haussperlings, sondern verdeutlichen ein sehr komplexes räumlich-zeitliches Muster der Gen-Expression. Zusätzlich deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass das eigentliche Schrittmacherzentrum in einem Bereich des Hypothalamus liegt, der in bisherigen Studien völlig vernachlässigt worden ist. Um auszuschließen, dass dieses Expressionsmuster des pPer2-Gens nur durch Licht, nicht jedoch von der inneren Uhr hervorgerufen wird und somit möglicherweise gar kein Ausdruck der Aktivität der inneren Uhr ist, haben die Wissenschaftler die zuvor genannten Experimente wiederholt, nachdem die Haussperlinge einige Tage im Dauerdämmerlicht lebten, also keine Tag-Nacht-Wechsel mehr wahrnehmen konnten. Unter solchen Bedingungen beginnen innere Uhren „frei“ zu laufen, das heißt: Sie steuern die Rhythmik des Organismus völlig umweltunabhängig. Dabei fanden die Andechser Forscher ein praktisch identisches Expressionsmuster des pPer2-Gens. Das lässt darauf schließen, dass in beiden hypothalamischen Kerngebieten innere Uhren aktiv sind.

Gibt es also neben der Zirbeldrüse einen – aus mehreren Abschnitten bestehenden – oder zwei möglicherweise sogar voneinander unabhängige circadiane Schrittmacher im Hypothalamus der Vögel? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der (im Vergleich zum Säuger) komplizierten Organisation des Schrittmachersystems der Vögel und dem hohen Grad an Flexibilität dieser Tiergruppe, die praktisch alle Lebensräume besiedelt? Insbesondere der Vergleich zwischen Standvögeln, also Vögeln, die das ganze Jahr oder ihr ganzes Leben am selben Ort verbringen, und Zugvögeln, die in der Regel zweimal pro Jahr bis zu mehrere Tausend Kilometer zurücklegen, um ihre Sommer- oder Winterquartiere zu erreichen, erscheint dabei für die Zukunft lohnenswert. Wie vermeiden Zugvögel nach Bewältigung langer Zugstrecken und der Überquerung ökologischer Barrieren den Jetlag, der ohne Zweifel zu ungünstigen, möglicherweise sogar lebensbedrohenden Lebensbedingungen führen könnte? Dies sind nur einige der Fragen mit denen die Andechser Forscher derzeit konfrontiert sind. Durch eine Kombination aus Molekularbiologie, Neurobiologie, Physiologie und Verhaltensforschung erhoffen sich Roland Brandstätter und seine Kollegen neuartige Erkenntnisse zur biologischen Bedeutung der inneren Uhr für spezielle Aspekte der Lebensweise und die Bewältigung ständig wechselnder Umweltanforderungen.

Media Contact

Dr. Roland Brandstätter Presse- und Öffentlichkeitsarbei

Weitere Informationen:

http://www.mpg.de/index.html

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