Neuer Wegweiser für wandernde Nervenzellen entdeckt

Streifenwachstum in der Zellkultur: Treffen die Unc5-Rezeptoren auswachsender Nervenzellen auf FLRT-Proteine (in den blauen Bereichen), so zieht sich der entsprechende Zellfortsatz zurück und wächst in einem FLRT-freien Bereich weiter. © Max-Planck-Institut für Neurobiologie / Hampel <br>

Die Großhirnrinde ist ein Netzwerk aus mehreren Milliarden Nervenzellen. Hier werden Bewegungen und Sinneseindrücke verarbeitet und gesteuert, ebenso wie Funktionen der Sprache und des logischen Denkens.

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried konnten nun mit einem internationalen Team einen wichtigen Mechanismus zur Entwicklung dieser komplexen Struktur aufklären. Die sogenannten FLRT-Proteine sitzen auf der Oberfläche von Zellen und steuern die Festigkeit von embryonalem Gewebe, beispielsweise bei der Herzentwicklung. Nun fanden die Wissenschaftler in Mäusen noch eine zweite, bis dato unbekannte Funktion der FLRT-Proteine: Ein Teil des Proteins kann sich abtrennen und als Bindungspartner an einen Rezeptor auf einer Nervenzelle binden. Junge, wandernde Nervenzellen der Großhirnrinde werden durch diese FLRT-Proteine abgestoßen und so gelenkt. Eine wichtige Erkenntnis, um den Aufbau dieser zentralen Gehirnstruktur zu verstehen.

Menschen wie Mozart, Einstein oder van Gogh verdanken ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten ihrer Großhirnrinde. Dank der Nervenzellen in diesem Bereich können auch wir „Normalsterbliche“ lernen, sprechen, Sinneseindrücke verarbeiten und logisch denken. Damit diese Prozesse optimal funktionieren, müssen sich die Nervenzellen mit ihren entsprechenden Partnerzellen verbinden. Keine leichte Aufgabe, denn in der frühen Gehirnentwicklung herrscht in der Großhirnrinde Hochbetrieb: Junge Nervenzellen strömen in den entstehenden Hirnbereich, wo sie entweder direkt zu ihrem Zielort wandern, oder erst eine Zeit geduldig warten, bis sie ihren Weg fortsetzen. Nach und nach entsteht so eine typische Schichtstruktur aus Zellkörpern. Einmal an ihrem Platz angekommen, schicken die Zellen ihre Fortsätze aus, die zum Teil mit Nachbarzellen und zum Teil mit Zellen aus anderen Schichten Kontakte knüpfen. Woher wissen die Zellen in diesem Getümmel aus Milliarden von wandernden Zellen und auswachsenden Zellfortsätzen, in welche Schicht sie wandern und wohin sie ihre Fortsätze schicken müssen?

Proteine als Wachstumslotsen
Mittlerweile sind einige Proteine auf der Oberfläche auswachsender Nervenfortsätze bekannt, die bei der Orientierung helfen. Die Wissenschaftler des Martinsrieder Max-Planck-Instituts für Neurobiologie arbeiten beispielsweise seit einigen Jahren erfolgreich an sogenannten Ephrinen, die Nervenzellfortsätze durch Abstoßung lenken. Bei einer anderen Gruppe, den FLRT-Proteinen, handelt es sich um Oberflächenrezeptoren, die jedoch die Fortsätze anderer Zellen anziehen und so einen Zellverband zusammenhalten. Frühere Arbeiten der Martinsrieder Wissenschaftler hatten gezeigt, dass beim Verlust eines von drei FLRT-Proteinen embryonales Gewebe auseinanderbricht und sich die Zellen zu einem ganz anderen Zelltyp weiterentwickeln. Nun haben die Wissenschaftler mit einem internationalen Kollegenteam gezeigt, dass die FLRT-Proteine noch eine zweite Funktion haben: Sie helfen Nervenzellen während der Gehirnentwicklung bei der Orientierung.

Die Neurobiologen konnten zeigen, dass sich ein Teil des FLRT-Rezeptors abspalten, und an sogenannte Unc5-Rezeptoren auf anderen Nervenzellen binden kann. Das Ergebnis dieser Bindung ist dramatisch: Die Wachstumsspitze des Axons kollabiert, es zieht sich zurück und bleibt stehen oder wächst in eine andere Richtung weiter. Zusätzlich zu der bereits bekannten, anziehenden Funktion der FLRT-Proteine, kann der abgespaltene Teil des Proteins somit auch ein abstoßendes Signal für Nervenzellen sein. „Es ist ungewöhnlich und hat uns daher überrascht, dass ein Rezeptor, oder ein Teil von ihm, selbst zum Bindungspartner eines anderen Rezeptors wird“, sagt Rüdiger Klein, der Leiter der Studie. „Je komplexer ein Lebewesen wird, desto mehr Funktionen müssen anscheinend seine einzelnen Komponenten übernehmen.“

Leitsystem in der Großhirnrinde
Wie wichtig die neu entdeckte Interaktion von FLRT und Unc5 für die Entwicklung der Großhirnrinde ist, konnten die Wissenschaftler bereits belegen. Sie zeigten, dass junge Nervenzellen ohne Unc5-Rezeptoren die erste Schicht der sich bildenden Großhirnrinde, bestehend aus Nervenzellen mit FLRT-Proteinen, ohne Probleme passieren. Andere Nervenzellen mit Unc5-Rezeptoren kommen an dieser Schicht dagegen nicht so schnell vorbei. Diese Zellen müssen warten, bis sich ihre Rezeptoren zurückgebildet haben. Während dieser Zeit haben die ursprünglich Unc5-freien Zellen ihre Position in der Großhirnrinde erreicht und sich in einer neuen Schicht etabliert. Wenn die Zellen mit den rückgebildeten Unc5-Rezeptoren nun in die Großhirnrinde einwandern, müssen sie wahrscheinlich mit den Unc5-freien Zellen interagieren, bevor sie sich niederlassen und ihre Rezeptoren wieder aufbauen können. So trägt das Zusammenspiel von FLRT und Unc5 zur korrekten Schichtentwicklung der Großhirnrinde bei. „Eine wichtige Erkenntnis, die uns langfristig auch bei Fehlentwicklungen in diesem Bereich und anderen Gehirnstrukturen weiterhelfen könnte“, so Rüdiger Klein.
Ansprechpartner
Dr. Stefanie Merker
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
Telefon: +49 89 8578-3514
E-Mail: merker@neuro.mpg.de
Originalpublikation
Satoru Yamagishi*, Falko Hampel*, Katsuhiko Hata, Daniel del Toro, Manuela Schwark, Elena Kvachnina, Martin Bastmeyer, Toshihide Yamashita, Victor Tarabykin, Rüdiger Klein, Joaquim Egea
FLRT2 and FLRT3 act as repulsive guidance cues for Unc5-positive neurons
EMBO Journal, Online Veröffentlichung, 14. Juni 2011

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Dr. Stefanie Merker Max-Planck-Institut

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