Der Erfurter Dom war einmal eine Wallfahrtskirche

Aktuellste Forschungen zu St. Marien in der thüringischen Landeshaupt-stadt lassen die Baugeschichte des Gotteshauses in einem neuen Licht erscheinen


Wer heutzutage die Figuren an der Tumba für die beiden Heiligen Adolar und Eoban in der Krypta des Erfurter Domes betrachtet, sieht sie in einer Anordnung, die nicht die ursprüngliche ist. Die Reihenfolge der kleinen Skulpturen, die das Martyrium der beiden Heiligen und des Heiligen Bonifatius darstellen, wurden irgendwann einmal vertauscht und damit in ihrem Sinn entstellt. Dank jüngster Forschungen kann nicht nur die ursprüngliche Anordnung der Figuren rekonstruiert werden, sondern die gesamte Baugeschichte des Domes rückt in ein verändertes Licht.

Die Untersuchungen sind Teil umfangreicher Forschungen zum Erfurter Dom, die im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkol-legs Kunstwissenschaft – Bauforschung – Denkmalpflege der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und der TU Berlin im Zusammenarbeit mit dem Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege in den Jahren 2003/04 durchgeführt wurden.

Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses lag die Baugeschichte von St. Marien zwischen den Jahren 1280 und 1372. Es war eine Zeit regen Baugeschehens an der Kirche. Dies veranlasste die Wissenschaftler zu der Frage, welche Absicht hinter dieser intensiven Bautätigkeit steckte.

Architekten, Archäologen, Bauforscher, Historiker und Kunsthistoriker untersuchten in acht interdisziplinär zusammengesetzten Arbeitsgruppen unter anderem den Hohen Chor, die Krypta, die Architektur des Hauptportals des Doms, den Kreuzgang aber auch die Geschichte der Denkmalpflege dieses Gotteshauses.

So konnten die Teilnehmer des Graduiertenkollegs im Gegensatz zur bisherigen tradierten Forschungsmeinung nachweisen, dass manche architektonischen Merkwürdigkeiten des Kreuzgangs keine „Erfindungen“ des 19. Jahrhunderts sind, sondern dieser im Wesentlichen aus dem Mittelalter stammt. Die „Merkwürdigkeiten“ sind oft die höchst eigenwilligen und bemerkenswerten Schöpfungen von Erfurter Baumeistern im Mittelalter.

In die Zeit vor 1374 fällt auch der Bau des neuen bis heute erhaltenen Hohen Chors und die Anlage eines Pilgerweges, der in die Krypta zur Tumba mit den Reliquien von Adolar und Eoban führte. Bei den Nachforschungen zum Pilgerweg und den gut sichtbaren RRötelgraffiti stieß man auf bislang nicht bekannte Wandmalereien, die jedoch nur noch schemenhaft erhalten geblieben sind. Erklärungsbedürftig für die Wissenschaftler war die Tatsache, dass sich die Rötelgraffiti oberhalb der Wandmalereien in einer Höhe befinden, die für einen durchschnittlich großen Menschen nicht erreichbar ist. Sie kamen zu dem Schluss, dass das den Chor außerhalb umlaufende Wandbild mit einem Holzdach überbaut gewesen sein muss, auf das wartende Pilger kletterten, die in die Krypta mit den Reliquien der Heiligen wollten. Sie hinterließen im Gestein Zeichnungen und ihre Namenszüge.

Weiterhin fanden die Wissenschaftler unter anderem heraus, dass die Arbeiten am Hohen Chor zwischen 1329 und 1349 unterbrochen waren. In dieser Zeit wurden der Ostflügel im Kreuzgang und das Triangelportal erbaut, nunmehr der Haupteingang des Domes. Eine Weiheinschrift aus dem Jahr 1349 bezieht sich damit nicht auf die viel frühere Grundsteinlegung, sondern auf den Zeitpunkt des Weiterbaus.

Insgesamt ergaben die Forschungen einen neuen Blick auf die Erfurter Frömmigkeitsgeschichte und die Baugeschichte von St. Marien. Die Untersuchung des Baugeschehens zwischen 1280 und 1372, dem Jahr der Weihung des Hohen Chores, führte die Wissenschaftler zu der Erkenntnis, dass die umfänglichen Baumaßnahmen das Ziel hatten, den Wallfahrtsort zu etablieren. „Was bisher als zufällige Häufung unterschiedlicher Baumaßnahmen und Ausstattungsverbesserungen galt, zeigt sich im Lichte unserer Forschungen als planvolles Handeln mit dem Ziel, St. Marien zu einer bedeutenden Wallfahrtskirche in Erfurt auszubauen“, sagt Johannes Cramer, Professor für Bau- und Stadtbaugeschichte an der TU Berlin und Sprecher des Graduiertenkollegs.

Die Publikation „Forschungen zum Erfurter Dom“ (Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege, Neue Folge 20), haben das Thüringische Landesamt für Denkmalpflege und das Graduiertenkolleg gemeinsamen herausgegeben.

Weitere Informationen erteilt Ihnen gern: Prof. Dr.-Ing. Johannes Cramer, Fachgebiet Bau- und Stadtbaugeschichte der TU Berlin, Telefon: 030/314-21946, Fax: 030/314-21947, E-Mail: cramer@baugeschichte.tu-berlin.de

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Ramona Ehret idw

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