Aufstehen, losgehen, Hürden nehmen

Die genaue Passform der Adapterplatine wird am Motortreiber des Exoskeletts überprüft.
(c) Christian Kielmann

Student*innen der TU Berlin bauen ein Exoskelett, um querschnittgelähmten Menschen das Laufen zu ermöglichen und suchen paraplegische Pilot*innen für den CYBATHLON 2024.

Quer durch den Raum ist ein dickes Stahlseil gespannt, darunter liegt eine Bahn aus weichen Schaumstoffmatten. Bald soll, zunächst mit dem Seil gesichert, ein*e querschnittgelähmte*r Pilot*in das robotische Exoskelett der TU Berlin entlang des weichen Mattenwegs testen und mit ihm Laufen üben. Bevor es dann im Oktober zum CYBATHLON geht, wo Paraathlet*innen aus der ganzen Welt in einem Parcours gegeneinander antreten. Die Pilot*innen, Menschen mit vollständiger Lähmung beider Beine, müssen dort, unterstützt mit dem Exoskelett, verschiedene Aufgaben meistern. Bis es soweit ist, gibt es noch viel zu tun für die Studierendengruppe RISE, die das Exoskelett baut.

Konkurrenzfähiges Exoskelett

Studierende des RISE-Projekts begutachten Montage- und Verkabelungsmöglichkeiten am Mock-Up der Gesamtkonstruktion.
Studierende des RISE-Projekts begutachten Montage- und Verkabelungsmöglichkeiten am Mock-Up der Gesamtkonstruktion. (c) Christian Kielmann

RISE steht für „Research and Innovation in Student Exoskeleton development“ und der Name ist Programm. Gemeinsam mit der studentischen Initiative SEI (Sozial Engagierte Ingenieur*innen) startete der Fachgebiet Medizintechnik der TU Berlin 2022 mit RISE ein innovatives und praxisnahes Modul an der TU Berlin, um Menschen mit Querschnittlähmung das Aufstehen und Gehen zu ermöglichen und ihnen eine verbesserte Teilnahme am Alltag zu ermöglichen. „Es ist schön, ein Teil des Projekts RISE zu sein, weil es um eine wirklich gute Sache geht. Wir wollen Menschen helfen, ihrem Bedürfnis nach aufrechtem Gehen wieder nachkommen zu können und ihnen eine verbesserte Teilnahme am Alltag ermöglichen“, erzählt Studentin Nicola Dobler. In aufeinander aufbauenden Arbeitspaketen wie Konzeption, Entwicklung, Produktion und Erprobung bauen Student*innen aus unterschiedlichsten Fachrichtungen, wie Elektrotechnik, Maschinenbau, Informatik, Biomedizinische Technik, Human Faktors und Wirtschaftsingenieurwesen seit drei Semestern ein konkurrenzfähiges Exoskelett, ein tragbares Gerät, ähnlich einer angetriebenen medizinischen Schiene, das um den Unterleib geschnallt wird.

Das Leben von Menschen mit Beeinträchtigung bereichern

„Uns fasziniert die Möglichkeit, das Leben von Menschen mit Beeinträchtigung zu bereichern und die Grenzen des Machbaren im Bereich der Exoskelette für Paraplegiker*innen zu verschieben“, sagt Projektleiter Lukas Schneidewind, der das Projekt 2022 ins Leben gerufen hat. Als Student hat er selbst in den studentischen Projekten SEI und Formula Student Team (FaSTTUBe) der TU Berlin mitgewirkt. Im Studium etwas Konkretes zu entwickeln hat ihn fasziniert. Weil solche ambitionierten Projekte aber viel Zeit in Anspruch nehmen, hat er zusammen mit Prof. Dr. Marc Kraft vier RISE Module entwickelt, die im Studium angerechnet werden können. Sie umfassen Themengebiete wie Konstruktion, Elektronik, Regelung, Human Machine Interaction und PR & Marketing.

Gleichgewichtsregelung als heiliger Gral

Eine besondere Herausforderung bei der Entwicklung des Exoskeletts ist laut Schneidewind die Gleichgewichtsregelung, der „heilige Gral in der Exoskelettentwicklung und Robotik“. Sogar die ganz Großen in der Forschung, wie der Roboter von Boston Dynamics, stürzen aus diesem Grund noch ab und zu. Bei Projektbeginn hat Schneidwind ein Kind bekommen und miterlebt, wie viele Gleichgewichtsstrategien ein Kind mit sehr viel Zeit lernen muss. „Im Exoskelett muss für die Balance jede Bewegung in einem eigenen Modell abgebildet werden, um den Nutzenden einen robusten Vorgang zu ermöglichen“, so der Forscher. Hierfür arbeitet das Team mit den allerneuesten Forschungsergebnissen und mittlerweile hat sich im Fachgebiet sogar eine eigene Projektwerkstatt als studentisches Lehrformat für diese Thematik entwickelt.

Hybriden Kniemotor mit Sprungfeder

Um das Gewicht und den Schwerpunkt des Exoskeletts niedrig zu halten, experimentiert das RISE Team mit einem hybriden Kniemotor mit Sprungfeder, um eine hohe Leistungsdichte zu erhalten und die Energie in der Bewegung zu speichern und nutzbar zu machen. Das spart Energie, so wie beim Menschen, dessen Bewegungen zum großen Teil auch aus Energierückführung bestehen.
Federelemente sollen auch bei den Fußgelenken eingesetzt werden. Da ein Roboter aus praktischen Gründen über weniger angetriebene Gelenke im Fuß verfügt, ist das natürliche Abrollen nicht ganz so geschmeidig möglich. Zusätzlich werden sehr hohe Kräfte und Geschwindigkeiten nötig, weil der Fuß sonst über den Boden schleifen würde. Dies begründet auch den klassisch robotischen Gang, wo die Füße unnatürlich hochgehoben werden müssen, um die fehlende Leistung zu kompensieren.

Auch Seitwärtsbewegungen möglich

Zusätzlich hat das Team pro Bein vier anstatt der üblichen zwei Aktuatoren in die Mechanik eingebaut, so dass auch Seitwärtsbewegungen möglich sind. „Und wir ermöglichen mit bis zu 310 Newtonmetern in den Kniegelenken beinahe doppelt so viele Drehmomente, als die meisten Konkurrenzprodukte, die wir kennen“, sagt Schneidwind. Zum Vergleich: Mit dieser Kraft sei es möglich, ein Auto zu bewegen. Für die diesjährigen Anforderungen beim CYBATHLON werden solcherlei Kräfte verlangt. Im Oktober erwarten die Pilot*innen zehn herausfordernde Hindernisse: Fünf Meter ohne Gehstützen laufen, eine Treppe mit unterschiedlich langen Stufen vorwärts runtergehen, seitlich durch zwei Bänke laufen, eine Kiste aus einem Regal heben, zu einem Tisch tragen und dort ein Brot schneiden sind nur einige von ihnen.

TU-Tischlerei fertigt Hindernisse an

Um die Pilot*in gut vorbereiten zu können, hat das Team von der TU-Tischlerei alle Hindernisse eins zu eins eigens für das RISE Team angefertigt. Eine große Hilfe, auch finanziell, denn die Fördergelder sind mittlerweile aufgebraucht, weitere Sponsor*innen werden gesucht. Den Bau der Aktuatoren haben zwei Firmen mit einem Sponsoring in Höhe von 35.000 Euro übernommen. Und der wichtigste Part im ganzen Projekt fehlt noch: ein*e Pilot*in, die im Oktober die Challenge im CYBATHLON Parcours annehmen möchte und vorher mit dem RISE-Team trainiert. „Wir haben schon einige potenzielle Kandidaten, aber noch steht niemand fest und für den Wettbewerb wollen wir natürlich mit der stärksten Mannschaft antreten. Wir freuen uns über eine Beteiligung sowohl als Pilot*in, aber auch als Austauschpartner*in für Fragen und Workshops“, sagt Lukas Schneidewind. Das letzte Semester vor dem nächsten CYBATHLON beginnt mit dem Auftakt am 17.04.24 um 12 Uhr am FG Medizintechnik – weitere interessierte Studierende sind sehr gerne gesehen.

Pilot*in gesucht:

Die Anforderungen an Pilot*innen ergeben sich hauptsächlich aus den Vorgaben des CYBATHLON:
– Rückenmarksverletzung mit Querschnittlähmung (AIS A oder B = keine motorische Funktion der UEX erhalten)
– mindestens 18 Jahre alt
– vollständige Einwilligungs-/Kommunikationsfähigkeit
– gesunde Knochendichte
– keine oder seit 1/2 Jahren stabile/komplikationsfreie Implantate
– ausreichende Rumpf- und Armkraft/-kontrolle
– laufende Therapie/Training
– Zeit und Motivation
– 1,60 m bis 1,90 m groß und bis maximal 90 kg schwer
– Pilot*in kann mithilfe eines Hilfsmittels stehen

Ausschlusskriterien sind:

– schwere neurologische Verletzungen mit Ausnahme von Rückenmarksverletzungen in der Anamnese
– schwere Begleiterkrankungen: Infektionen, Durchblutungsstörungen, Herz- oder Lungenerkrankungen, Druckgeschwüre
– schwere Spastizität (Modified Ashworth 4)
– instabile Wirbelsäule oder nicht verheilte Frakturen der Gliedmaße oder des Beckens
– signifikante Kontrakturen
– psychiatrische oder kognitive Störungen, die eine ordnungsgemäße Bedienung des Geräts beeinträchtigen könnten
– Schwangerschaft

Weiterführende Informationen:

Webauftritt des RISE Projekts https://blogs.tu-berlin.de/mt_rise/de/home-deutsch/

Auftritt vom RISE auf Instagram https://www.instagram.com/rise_tub/

Auftritt von RISE auf LinkedIn https://www.linkedin.com/authwall?trk=bf&trkInfo=AQEQQKOtxgkSIAAAAY7mMLqoYIN…

Kontakt:

Lukas Schneidewind
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Fachgebiet Medizintechnik
TU Berlin
E-Mail: l.schneidewind@tu-berlin.de
mt-TB-risemember@win.tu-berlin.de

https://www.tu.berlin/ueber-die-tu-berlin/profil/pressemitteilungen-nachrichten/aufstehen-losgehen-huerden-nehmen

Media Contact

Stefanie Terp Stabsstelle Kommunikation, Events und Alumni
Technische Universität Berlin

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Medizintechnik

Kennzeichnend für die Entwicklung medizintechnischer Geräte, Produkte und technischer Verfahren ist ein hoher Forschungsaufwand innerhalb einer Vielzahl von medizinischen Fachrichtungen aus dem Bereich der Humanmedizin.

Der innovations-report bietet Ihnen interessante Berichte und Artikel, unter anderem zu den Teilbereichen: Bildgebende Verfahren, Zell- und Gewebetechnik, Optische Techniken in der Medizin, Implantate, Orthopädische Hilfen, Geräte für Kliniken und Praxen, Dialysegeräte, Röntgen- und Strahlentherapiegeräte, Endoskopie, Ultraschall, Chirurgische Technik, und zahnärztliche Materialien.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Neue universelle lichtbasierte Technik zur Kontrolle der Talpolarisation

Ein internationales Forscherteam berichtet in Nature über eine neue Methode, mit der zum ersten Mal die Talpolarisation in zentrosymmetrischen Bulk-Materialien auf eine nicht materialspezifische Weise erreicht wird. Diese „universelle Technik“…

Tumorzellen hebeln das Immunsystem früh aus

Neu entdeckter Mechanismus könnte Krebs-Immuntherapien deutlich verbessern. Tumore verhindern aktiv, dass sich Immunantworten durch sogenannte zytotoxische T-Zellen bilden, die den Krebs bekämpfen könnten. Wie das genau geschieht, beschreiben jetzt erstmals…

Immunzellen in den Startlöchern: „Allzeit bereit“ ist harte Arbeit

Wenn Krankheitserreger in den Körper eindringen, muss das Immunsystem sofort reagieren und eine Infektion verhindern oder eindämmen. Doch wie halten sich unsere Abwehrzellen bereit, wenn kein Angreifer in Sicht ist?…

Partner & Förderer