Gewerkschaften: Im Osten auf Rückzug

Es ist nicht viel übrig geblieben von den „goldenen Zeiten“ der Betriebsräte und Gewerkschaften. In ihren jüngsten Verhandlungen hatte die IG Metall acht Prozent mehr Lohn für die 3,6 Millionen Beschäftigten der Branche verlangt.

Der getroffene Kompromiss ergab eine Lohnerhöhung von 4,2 Prozent und Einmahlzahlungen. „Vor dem Hintergrund der Finanzkrise gar kein so schlechtes Ergebnis“, erklärt Prof. Dr. Klaus Dörre von der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Der Jenaer Arbeitssoziologe hat die sich wandelnden Beziehungen zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften untersucht. Unterstützt wurde die Studie von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung. „Der Trend der Verbetrieblichung industrieller Beziehungen ist seit vielen Jahren auszumachen“, beschreibt Dörre, der den Lehrstuhl für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena innehat. Gemeint ist sowohl die Zunahme betrieblicher Vereinbarungen, die von Flächentarifverträgen abweichen, als auch die inhaltliche Kluft zwischen betrieblichen und unternehmensübergreifenden zivilgesellschaftlichen Interessen.

Die Jenaer Soziologen um Prof. Dr. Klaus Dörre befragten über 400 Betriebsräte nach ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement und führten Experteninterviews mit führenden Gewerkschaftern, Lokalpolitikern und Wirtschaftsförderern durch. Die Ergebnisse waren vor allem in den neuen Bundesländern ernüchternd, wo sich „die Krise der Gewerkschaftspolitik in ihrem vollem Ausmaß zeigt“. Hier fanden die Soziologen auch überdurchschnittlich viele gesellschaftlich nicht-engagierte und anti-gewerkschaftlich eingestellte Betriebsräte vor. Im Vergleich zur Situation im Westen engagieren sich Betriebräte im Osten nur halb so oft in gewerkschaftlichen Arbeitskreisen oder in gewerkschaftlichen Ämtern. Über 30 Prozent sind der Meinung, der Betriebsrat müsse nicht unbedingt einer Gewerkschaft angehören.

Anders als im Westen wird die lose Tarifbindung im Osten schon weitgehend als Faktum akzeptiert, denn Arbeitszeitverlängerungen sind, ebenso wie im Westen, tarifliche Realität, das Lohnniveau ist niedriger und die Arbeitslosigkeit höher als in den alten Bundesländern. Nur 30 Prozent der Betriebsräte im Osten denken, dass sie ihre Belegschaft in Fragen der Arbeitszeit mobilisieren könnten. Für gewerkschaftliche Ziele zu mobilisieren, trauen sich nur knapp über 20 Prozent zu. „Die Mehrheit der Betriebsräte konzentriert sich auf die Pflege eines guten Verhältnisses mit der jeweiligen Geschäftsführung oder betreibt ein klassisches Co-Management“, erklärt Prof. Dörre. Entsprechend erscheint der Osten dem Westen konzessionswilliger: „Im Osten können die Unternehmer machen was sie wollen: Um Arbeitsplätze zu erhalten, werden auch schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptiert“, war eine häufige Aussage der Betriebsräte im Westen.

Der „Scheinfrühling“ nach der Wende, als die Mitgliederzahlen nicht nur der Betriebsräte, sondern auch der Gewerkschaften in den neuen Bundesländern stetig stieg, gehört laut Studie längst der Vergangenheit an. „Mitgliederzahlen schwinden und Landesvertretungen in den neuen Bundesländern schließen“, beschreibt Prof. Dörre und warnt sogar vor einem gewerkschaftsfreien Raum im Osten.

Ihre Studie stellen die Soziologen der Universität Jena nun Betriebsräten und Gewerkschaften vor. „Unsere Ergebnisse bedeuten nicht das Ende der Gewerkschaften. Wir wollen Anknüpfungspunkte liefern, wie die Krise durch innovative Strategien überwunden werden kann“, so Dörre. „Dann könnten Tarifrunden für die Arbeitnehmer in Zukunft vielleicht wieder erfreulicher ausfallen.“

Kontakt:
Prof. Dr. Klaus Dörre
Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Carl-Zeiß-Straße 2, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 945520
E-Mail: klaus.doerre[at]uni-jena.de

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Katrin Czerwinka idw

Weitere Informationen:

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