Nervenzellen als Teamplayer: Göttinger Forscher erklären, wie das Auge Bewegungen erkennt

Prof. Dr. Tim Gollisch, Klinik für Augenheilkunde der Universitätsmedizin Göttingen (UMG). privat

Wer ein scharfes Foto machen will, muss die Kamera still halten, sonst drohen verwackelte Bilder und verschwommene Konturen. Ähnlich geht es unserem Sehsystem. Damit wir unser Umfeld klar wahrnehmen, muss die Blickrichtung fixiert werden, auch wenn wir uns selbst in Bewegung befinden.

Dafür überwacht das Gehirn ständig die Bewegung der Blickrichtung, um gegebenenfalls mit Bewegungen der Augen gegenzusteuern. Bei unterschiedlichen Krankheitsbildern ist dieses System gestört. Das führt zu unkontrollierten Augenbewegungen, häufig Nystagmus genannt. Eine Folge kann unter anderem Sehschwäche sein.

Bei der Überwachung der Blickrichtung spielen Nervenzellen im Sehsystem eine zentrale Rolle. Diese Zellen werden aktiv, wenn sich das Bild im Auge in eine bestimmte Richtung verschiebt. Ihre Signale können somit als Auslöser gegensteuernder Augenbewegungen agieren.

Derartige Nervenzellen haben Dr. Norma Kühn und Prof. Dr. Tim Gollisch von der Klinik für Augenheilkunde an der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) bereits vor einiger Zeit im Auge von Salamandern entdeckt. Nun können sie zeigen, wie diese Nervenzellen durch ihre Aktivität die Bewegung der Umgebung signalisieren.

Die Forschungen wurden durch die europäische Forschungsförderung des European Research Council und durch den Göttinger Sonderforschungsbereich 889 „Zelluläre Mechanismen sensorischer Verarbeitung“ unterstützt. Die Ergebnisse sind jetzt im renommierten Wissenschaftsmagazin „Neuron“ veröffentlicht.

Bei ihren Untersuchungen stellten die Wissenschaftler fest, dass die Zellen ihre Aufgabe nicht einzeln vollbringen können, da sie außer durch Bewegung auch durch einfache Änderungen der Helligkeit aktiviert werden. Um Bewegungen von Helligkeitsänderungen zu unterscheiden, müssen die Nervenzellen im Verbund agieren.

Als echte Teamplayer leiten sie nicht nur Informationen zur wahrgenommenen Bewegung weiter, sondern liefern auch ein Korrektursignal an die Nachbarzellen. Nachgeschaltete Nervenzellen bekommen so wichtige Informationen, um Signale von Bewegungen und Helligkeitsänderungen getrennt zu verarbeiten.

„Nicht die Signale einzelner Zellen zeigen an, in welche Richtung eine Bewegung stattgefunden hat. Entscheidend dafür ist vielmehr die Differenz der Signale zweier Zellen“, sagt Norma Kühn, ehemals Stipendiatin des Dorothea Schlözer-Programms der Universität Göttingen und Erst-Autorin der Publikation. Gruppen von Nervenzellen übertragen mehr Information über die beobachtete Bewegung, weil sie sich gegenseitig korrigieren.

„Wir sehen hier einen klaren Fall von ‘Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile‘, ein Beispiel für ‘Synergie‘ zwischen Nervenzellen“, sagt Prof. Tim Gollisch, Senior-Autor der Publikation. „Diese Synergie zwischen Nervenzellen wird noch erhöht durch gleichzeitige, also synchrone Aktivität der Nervenzellen. Dies führt zu einer genaueren Repräsentation der Bewegungsrichtung“, so Kühn. „Wir schließen daraus, dass die koordinierte Aktivität in Gruppen von Nervenzellen von Bedeutung ist.“

ERKENNTNISSE KÖNNEN HELFEN SEHPROTHESEN ZU ENTWICKELN

Nach Einschätzung von Prof. Dr. Tim Gollisch sind diese Erkenntnisse nicht nur aus Sicht der Grundlagenforschung interessant. Langfristig, so hofft er, können diese Erkenntnisse in die Entwicklung von Sehprothesen einfließen. Solche Sinnesprothesen stellen mittels künstlicher Aktivierung, beispielsweise durch kleine Elektroden im Auge, eine gewisse Sehfunktion wieder her, wenn durch Absterben der Lichtsensoren im Auge Blindheit eingetreten ist. „Die Ergebnisse weisen darauf hin“, so Gollisch, „dass nicht nur die richtigen Zellen aktiviert werden müssen, sondern dass auch das Verhältnis der Aktivierung von unterschiedlichen Zellklassen wichtig ist, damit das Gehirn die Information, die vom Auge kommt, korrekt interpretieren kann.“

Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
Klinik für Augenheilkunde
AG Sensory Processing in the Retina
Prof. Dr. Tim Gollisch, Telefon 0551 / 39-13542
tim.gollisch@med.uni-goettingen.de

www.retina.uni-goettingen.de 

Kühn NK, Gollisch T (2019). Activity correlations be-tween direction-selective retinal ganglion cells synergistically enhance motion de-coding from complex visual scenes. Neuron 2019 Jan 17. pii: S0896-6273(19)30004-2. doi: 10.1016/j.neuron.2019.01.003. [Epub ahead of print]

Media Contact

Stefan Weller Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Neue universelle lichtbasierte Technik zur Kontrolle der Talpolarisation

Ein internationales Forscherteam berichtet in Nature über eine neue Methode, mit der zum ersten Mal die Talpolarisation in zentrosymmetrischen Bulk-Materialien auf eine nicht materialspezifische Weise erreicht wird. Diese „universelle Technik“…

Tumorzellen hebeln das Immunsystem früh aus

Neu entdeckter Mechanismus könnte Krebs-Immuntherapien deutlich verbessern. Tumore verhindern aktiv, dass sich Immunantworten durch sogenannte zytotoxische T-Zellen bilden, die den Krebs bekämpfen könnten. Wie das genau geschieht, beschreiben jetzt erstmals…

Immunzellen in den Startlöchern: „Allzeit bereit“ ist harte Arbeit

Wenn Krankheitserreger in den Körper eindringen, muss das Immunsystem sofort reagieren und eine Infektion verhindern oder eindämmen. Doch wie halten sich unsere Abwehrzellen bereit, wenn kein Angreifer in Sicht ist?…

Partner & Förderer