Kannibalismus im Mutterleib von Fliegen

Anders als in der menschlichen Gesellschaft ist Kannibalismus im Tierreich weit verbreitet. Viele Tierarten fressen ihresgleichen oder sogar die eigenen Nachkommen unter Extrembedingungen, wie sehr große Individuenzahl oder Nahrungsmangel.

Forscher am Institut für Tierphysiologie der Justus-Liebig-Universität Gießen haben nun Kannibalismus an einem nicht vermuteten Ort, in dem vermeintlich geschützten Mutterleib, gefunden: Bei Untersuchungen an einer amerikanischen Fliegenart stellten sie fest, dass die Anzahl der gesunden Larven (ca. 40 Maden), die sich im Mutterleib befinden, mit der Zeit zurückgeht.

Gleichzeitig finden sich im Uterus der Fliegen immer mehr Überreste von Larven, Larven mit Verletzungen und besonders große Larven. Die gestorbenen Larven sind also gefressen worden, und die Verletzungen stammen von den Geschwistern im Mutterleib.

Wozu könnte dieser Kannibalismus im Mutterleib dienen? Die Fliegenart benötigt für die Aufzucht ihrer Nachkommen einen Wirtsorganismus. Sie infiziert den Wirt nicht mit Eiern, sondern mit Larven. Dazu entwickeln sich die Larven sehr schnell im Mutterleib und warten. Das Warten kann aber sehr lange dauern, denn die Fliege muss den Wirt erst noch finden. Die Fliegen benutzen die akustischen Signale, die der Wirt produziert, und deren Produktion hängt wiederum stark vom Wetter ab. Daher erstreckt sich die Wirtssuche häufig über vier Wochen, und in dieser Zeit stehen den Larven keine Nahrungsquellen zur Verfügung. Also bleibt den Larven für ein Überleben in der Mutter nur eins: sich von ihren Geschwistern zu ernähren.

Warum entwickeln sich alle Larven schon am Anfang der Saison, mit dem schwerwiegenden Nachteil des innermütterlichen Kannibalismus, also einer Reduktion des Fortpflanzungserfolgs der Mutter? Die Wissenschaftler Dr. Thomas deVries und Prof. Dr. Reinhard Lakes-Harlan vermuten, dass das mit der Dynamik im Parasit-Wirt-System zusammenhängt. Es gibt Jahre, in denen der Wirt in sehr großen Individuenzahlen auftritt. In diesen Jahren kann es für die Fliege vorteilhaft sein, schnell viele Wirte zu infizieren. Dazu werden ablagebereite Larven benötigt. Offensichtlich hat die Fliege keine Möglichkeiten vorherzusehen, wann diese Jahre auftreten. Um immer vorbereitet zu sein, nimmt die Fliegenart den Nachteil des Kannibalismus, den viele Larven aber überleben, in Kauf.

deVries, T. & Lakes-Harlan, R. (2007): Prenatal cannibalism in an insect. Naturwissenschaften. DOI 10.1007/s00114-006-0213-z

Kontakt:

Prof. Dr. Reinhard Lakes-Harlan
Institut für Tierphysiologie
Abteilung Sinnes- und Nervenphysiologie
Wartweg 95, 35392 Gießen
Telefon: 0641 99-35270
E-Mail: Reinhard.Lakes-Harlan@physzool.bio.uni-giessen.de

Media Contact

Christel Lauterbach idw

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Diamantstaub leuchtet hell in Magnetresonanztomographie

Mögliche Alternative zum weit verbreiteten Kontrastmittel Gadolinium. Eine unerwartete Entdeckung machte eine Wissenschaftlerin des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme in Stuttgart: Nanometerkleine Diamantpartikel, die eigentlich für einen ganz anderen Zweck bestimmt…

Neue Spule für 7-Tesla MRT | Kopf und Hals gleichzeitig darstellen

Die Magnetresonanztomographie (MRT) ermöglicht detaillierte Einblicke in den Körper. Vor allem die Ultrahochfeld-Bildgebung mit Magnetfeldstärken von 7 Tesla und höher macht feinste anatomische Strukturen und funktionelle Prozesse sichtbar. Doch alleine…

Hybrid-Energiespeichersystem für moderne Energienetze

Projekt HyFlow: Leistungsfähiges, nachhaltiges und kostengünstiges Hybrid-Energiespeichersystem für moderne Energienetze. In drei Jahren Forschungsarbeit hat das Konsortium des EU-Projekts HyFlow ein extrem leistungsfähiges, nachhaltiges und kostengünstiges Hybrid-Energiespeichersystem entwickelt, das einen…

Partner & Förderer