Dem Gehirn beim Denken zusehen: Mechanismen des assoziativen Lernens weiter entschlüsselt

Ein Dornfortsatz (ca. 1 Mikrometer im Durchmesser) einer Großhirnnervenzelle einer lernenden Maus wird abgebaut. Zwei Bilder an zwei verschiedenen Tagen (roter Pfeil: fehlender Dornfortsatz). Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)

Wie diese Netzwerkarbeit die plastischen Verbindungen zwischen den Nervenzellen – den Dornfortsätzen – verändert, zeigt eine aktuelle Publikation Tübinger Hirnforscher im Journal of Neuroscience. Mitt els der Zwei-Photonenmikroskopie konnten die Forscher einzelne Dornfortsätze im lernenden Gehirn von Mäusen beobachten: Je länger der Lernprozess voranschritt und je besser die individuelle Lernleistung war, desto stärker wurden die Dornfortsätze abgebaut.

Die Erkenntnisse der Studie tragen auch zu einem besseren Verständnis von Hirnerkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und Schizophrenie bei.

Obwohl das Gehirn bei weitem nicht die Schnelligkeit eines Computers erreicht, übertrifft es diesen in seiner Lernfähigkeit und seinem Erinnerungsvermögen. Grundlage dafür ist die flexible Vernetzung von über 100 Milliarden Nervenzellen. Eine wichtige Rolle spielen dabei Dornfortsätze, auch „dendritische Spines“ genannt. Diese feinsten Nervenzellausläufer werden beim Lernen und Erinnern stetig umgebaut. Die Veränderbarkeit neuronaler Signalübertragung ist eine der herausragenden Eigenschaften des Gehirns und wird von Neurowissenschaftlern als zelluläre Grundlage für das menschliche Gedächtnis angesehen.

Dies ist besonders einleuchtend, wenn man assoziatives Gedächtnis verstehen möchte. Dabei gilt es, Informationen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, aufzunehmen, zu verknüpfen und als sinnvollen Zusammenhang zu speichern. Solche Verknüpfungen (oder Assoziationen) liegen auch den komplexesten Denkvorgängen zugrunde.

„Nur wenn die beiden höchst unterschiedlichen Signale miteinander verknüpft werden, erfolgt ein Umbau an den Kontaktstellen der miteinander kommunizierenden Nervenzellen. Kurz gesagt: „Wir haben dann etwas gelernt“, erklärt Professor Cornelius Schwarz vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und dem Werner Reichhardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften der Universität Tübingen.

Damit die Forscher dem Gehirn der Mäuse beim Lernen zusehen konnten, trainierten sie diese auf eine einfache Lernaufgabe: Der Assoziation eines Berührungsreizes an ihren Tasthaaren mit einem darauffolgenden kleinen Luftstoß gegen die Augen. „Das Tasthaarsystem der Nager ist hierfür von herausragender Bedeutung, da die sensorischen Eingänge jedes einzelnen Tasthaars an einem sehr kleinen, aber gut bekannten Ort auf der Großhirnoberfläche verarbeitet werden“, sagt Schwarz.

Während die Tiere lernten, ihre Augen nach der Tasthaarberührung zu schließen, um den Luftstoß aufs offene Auge zu vermeiden, haben die Hirnforscher starke Umbauvorgänge der Dornfortsätze beobachtet. Es wurden im Mittel 15 Prozent der Dornfortsätze abgebaut, je länger der Lernprozess voranschritt und je besser war die individuelle Lernleistung der Maus. Ein Hinweis auf die hohe räumliche Präzision der Assoziationsprozesse ist es, dass der Dornfortsatzumbau nur an dem Punkt der Großhirnoberfläche stattfand, wo der sensorische Eingang des fraglichen Tasthaares war.

„Die beobachteten, hochspezifischen Eigenschaften des Dornfortsatzumbaus und die große zeitliche Korrelation mit dem Lernerfolg geben großen Anlass zur Hoffnung, dass der damit verbundene Netzwerkumbau kausal für die langfristige Speicherung des Lerninhalts verantwortlich ist“, so Schwarz über die Ergebnisse der Studie. Mit diesen Beobachtungen ist es den Wissenschaftlern gelungen, eine Tür zum Verständnis der Mechanismen des assoziativen Lernens aufzustoßen. Noch ist nicht klar, ob alle Zelltypen des Großhirns solche Veränderungen aufzeigen und warum der von den Forschern beobachtete Zelltyp einen Abbau von Nervenzellverbindungen aufzeigt und nicht einen Aufbau. Auch sind die physiologischen Signale unbekannt, die zu einer solchen Verknüpfung mit darauffolgendem Dornfortsatzumbau führen. All dies muss in weiteren Experimenten aufgeklärt werden.

Viele Gehirnkrankheiten, wie Schizophrenie, Alzheimer und Parkinson sind durch Beeinträchtigungen des Großhirns und damit des Denk- und Lernvermögens charakterisiert. Bevor die Verbesserung dieser Symptome und ihrer zugrundeliegenden neuronalen Prozesse ins Visier genommen werden können, müssen dieselben Prozesse im gesunden Gehirn verstanden worden sein. Auf diesem Weg sind die Tübinger Forscher ein kleines, aber wichtiges Stück weiter gekommen.

Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen
Das Großhirn ist ein Wunderwerk an dicht miteinander verschalteten Nervenzellen, die über der gesamten Oberfläche unseres Großhirns in sich wiederholenden Einheiten mit nahezu identischem Verschaltungsplan vorliegen. Die Teile des Denkorgans arbeiten daher sehr wahrscheinlich nach demselben Schema, ob diese nun mit Signalen aus den Sinnesorganen, Kommandos zur Bewegung der Muskeln oder abstrakteren Denkvorgängen umgehen. Interessanterweise gilt diese Ähnlichkeit auch für den Aufbau der Großhirne beim Vergleich zwischen Säugetieren. Die Speziesunterschiede im mikroskopischen Aufbau dieses Organs sind winzig. Die höheren Denkleistungen des Menschen scheinen daher nicht durch eine „genialere Verschaltung“ im Großhirns, sondern lediglich durch die massivere Akkumulation von ähnlich aufgebauten Netzwerkeinheiten und damit die Möglichkeit der Repräsentation von noch mehr und noch abstrakteren Denkeinheiten getragen zu sein. Die Ähnlichkeit zwischen Spezies macht es möglich, dass durch das Studium von tierischen Gehirnen wichtige Erkenntnisse über menschliche Denkleistungen zu Tage gefördert werden können.

Originalpublikation
Joachimsthaler, B., Brugger, D., Skodras, A., Schwarz, C. (2015) Spine loss in primary somatosensory cortex during trace eyeblink conditioning J Neurosci, 35:3772-3781

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Silke Jakobi idw - Informationsdienst Wissenschaft

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