Blick über den Säulenrand

Mehr als 50 Jahre herrschte in der Hirnforschung die Vorstellung, dass sich die Nervenzellen in der Großhirnrinde in Form mikroskopisch kleiner Säulen organisieren. Vor allem in diesen Säulen, so die Lehrmeinung, würden Verbindungen zwischen Nervenzellen geknüpft.

Der Freiburger Wissenschaftler Dr. Clemens Boucsein und seine Kollegen der Bernstein Center Freiburg und Berlin zeigen in einem Artikel der Fachzeitschrift „Frontiers in Neuroscience“, dass diese Annahme revidiert werden muss. Die Kommunikation der Zellen außerhalb der Säulen spielt eine viel größere Rolle als bislang angenommen.

In der Neurowissenschaft war eine der großen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts, dass in der Großhirnrinde übereinander liegende Nervenzellen auf denselben Reiz reagieren. Untersuchungen zur Vernetzung dieser Nervenzellen stärkten die Vorstellung, dass es sich bei den säulenartig angeordneten Einheiten um die Grundbausteine der Großhirnrinde handeln könnte.

Doch diese Sichtweise steht nun auf dem Prüfstand, denn neue Methoden erlauben es jetzt, auch weit entfernte Verbindungen zu untersuchen. Boucsein und seine Kollegen haben an der Universität Freiburg eine Methode entwickelt, durch Laserblitze einzelne Nervenzellen zu aktivieren und so zu analysieren, mit welchen Zellen sie verknüpft sind. Die Experimente brachten ein erstaunliches Ergebnis: Weniger als die Hälfte der Eingänge, die eine Nervenzelle in der Großhirnrinde erhält, stammt von Partnern innerhalb derselben Säule. Weit mehr Verbindungen kommen von Zellen aus der näheren und weiteren seitlichen Umgebung.

Die Experimente zeigten zudem, dass die seitlichen Verknüpfungen zeitlich sehr genau arbeiten. Für die Wissenschaftler ist das ein Hinweis darauf, dass das Gehirn den genauen Zeitpunkt eines elektrischen Impulses zur Kodierung von Informationen nutzt – eine Vermutung, für die immer mehr Hinweise gefunden werden. Durch diese neuen Einsichten in Aufbau und Arbeitsweise des Gehirns wird die Vorstellung einer Säulenstruktur der Großhirnrinde von der eines dicht gewebten Teppichs weitläufig miteinander verknüpfter Zellen abgelöst.

Boucsein C, Nawrot MP, Schnepel P und Aertsen A (2011) Beyond the cortical column: abundance and physiology of horizontal connections imply a strong role for inputs from the surround. Front. Neurosci. 5:32. doi: 10.3389/fnins.2011.00032

Kontakt:
Dr. Clemens Boucsein
Bernstein Center
Universität Freiburg
Tel.: 0761/203-2862
Fax: 0761/203-2860
E-Mail: boucsein@biologie.uni-freiburg.de

Media Contact

Rudolf-Werner Dreier idw

Weitere Informationen:

http://www.uni-freiburg.de

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Neuartiges Material für nachhaltiges Bauen

Innovativer Werkstoff für eine energieeffiziente Architektur: Forschende des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) stellen in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Communications ein polymerbasiertes Material mit besonderen Eigenschaften vor. Das…

Neues Antibiotikum gegen Erreger der Flussblindheit und Lymphatischen Filariose

Prof. Achim Hoerauf, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie, Immunologie und Parasitologie des Universitätsklinikums Bonn (UKB), und seinem Team ist es in Kollaboration mit der Abteilung Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie…

Evolutionäre Genomik: Folgen biodiverser Fortpflanzungssysteme

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert die Einrichtung eines neuen Graduiertenkollegs (GRK) in der Biologie an der Universität Göttingen. Das GRK mit dem Titel „Evolutionary Genomics: Consequences of Biodiverse Reproductive Systems…

Partner & Förderer